Autor-, Leserschaft und Verlagswesen: Observationsverhör mit Slata Roschal (1)

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© Ulrich Schäfer-Newiger

Seit den 1980er-Jahren gibt es das Format der Poetikvorlesung am Institut für Deutsche Philologie der LMU München: Autorinnen und Autoren werden an die Universität eingeladen, um über ihr Schreiben, ihre Bücher und ihre Poetik zu sprechen. 2024 gab es wieder eine Neuauflage. Um die Forschung zur Gegenwartsliteratur am Verlags- und Buchstandort München weiter voranzutreiben und das literarische Leben in Forschung und Lehre besser zu vermitteln, stand die diesjährige Poetikvorlesung unter dem Vorzeichen „Werkstatt und Maschinenraum“. Als Vortragende konnte die Schriftstellerin Slata Roschal gewonnen werden. Roschal sprach in drei Vorlesungen über die Bedeutung des Literaturbetriebs für ihre Arbeit, über Geld, Macht und Konkurrenz, über das kollaborative Entstehen von Büchern und über die besondere Herausforderung, sich dem Literaturmarkt zu stellen, wenn man Familie und Kinder hat. Begleitend dazu entstanden drei Interviews, die von Studierenden der LMU mit der Autorin geführt wurden. Das erste Interview bringen wir hier.

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Wir danken Ihnen bereits für Ihre Zeit! Für unser Gespräch haben wir uns prinzipiell drei Themenblöcke eingeteilt: einen Themenblock zur Autorschaft, einen zur Leserschaft und dann noch einen kleinen Block zum Verlagswesen. Alle drei Gebiete hängen natürlich zusammen.  Ich beginne gleich mit der ersten Frage zur Autorenschaft. Wenn Sie jetzt an den Anfang Ihrer Liebe zum Schreiben zurückblicken, können Sie konkret sagen, aus welchem Grund Sie angefangen haben zu schreiben? War das ein zweckgerichtetes Schreiben oder Schreiben des Schreibens willen? Haben Sie da Erinnerungen daran? 

Ich habe tatsächlich als Kind angefangen zu schreiben, aber das machen viele Kinder, und im russischen Kontext schreiben, glaube ich, sowieso alle irgendwann Gedichte. Warum ich damit angefangen habe, das weiß ich, ehrlich gesagt, gar nicht, wahrscheinlich einfach weil ich das wollte.

Also es war kein zweckgerichtetes Schreiben. Viele fangen an mit einem wirklichen „Ziel“ zum Beispiel zu informieren oder zu unterhalten. Gab es ein inneres Ziel? 

Genau, es war nicht zweckgerichtet, in diesem Alter geht es auch nicht darum. Mit etwa vier Jahren habe ich angefangen mit Texten, noch in Sankt Petersburg, soweit ich mich erinnern kann, in Deutschland dann in der Grundschule habe ich Erzählungen geschrieben, dann Kurzgeschichten, bin zu Gedichten auf Russisch übergegangen und habe sie selber ins Deutsche übersetzt, danach bin ich wieder gewechselt zur Lyrik auf Deutsch und dann nochmal zur Prosa.

Also ein kleiner Weg rundherum!

Genau, ich mag pragmatische Texte auch nicht so gern. Manchmal schreibe ich Artikel und Rezensionen, aber ich denke, dass literarische Texte immer Vorrang haben. Und versuche, darauf zu achten, weil die Gefahr recht hoch ist, sich mit einem „Debütroman“ einmal als Autor zu legitimieren und dann nur mit Zeitungsartikeln oder Experten-Gesprächen beschäftigt zu sein. Das kann man nicht ganz vermeiden, weil es kleine, regelmäßige Honorare einbringt, aber ich versuche die Balance zu halten und auch Phasen einzuplanen, die keinem pragmatischen Zweck dienen.

Und die Phasen, in denen man versucht, kein pragmatisches Ziel oder Zweck zu verfolgen, war das auch eine solche Phase bei der Entstehung des Romans 153 Formen des Nichtseins? Gab es da überhaupt ein pragmatisches Ziel? Oder konnten Sie hier auf ein solches Ziel verzichten? 

Vielleicht war hier das pragmatische Ziel, dass man einfach zu Ende schreibt, damit ein Buch entsteht, das veröffentlicht wird. Die Formen des Nichtseins habe ich zum Ende des Studiums geschrieben; die meiste Lyrik, als ich an der LMU angestellt war. Ich habe versucht, die Dissertation so schnell wie möglich zu schreiben und darin auch Hausarbeiten aus dem Studium zu verwerten, und dann ständig Gedichte, auch die Formen des Nichtseins, im Büro ausgedruckt, wahrscheinlich durfte ich das gar nicht. 
Das Büro war damals noch in meiner Graduierendenschule am Englischen Garten, eine Villa, ich bin hingegangen, wenn keiner da war, am Wochenende oder abends oder wenn alle im Sommerurlaub waren. Das waren immer Randbereiche, in die Literatur fiel.
Ich habe auch viel unterwegs auf dem Handy notiert, mir Notizen gemacht, Material gesammelt, bin es regelmäßig durchgegangen, habe es sortiert, überarbeitet, je näher es an ein Buch herankommt, desto fokussierter wird man, dann werden es doch ein paar Wochen am Stück, es war immer ein Schummeln und Mogeln, das alles parallel zu machen. 

Und bei diesem „Schummeln und Mogeln“, bei diesem Prozess, was ist dabei das zentrale Antriebsmittel? Gibt es da irgendetwas, wo Sie sagen: Das hat mich durchgebracht, das hat mich angetrieben? 

 Ja, ich denke, jeder muss für sich entscheiden – das klingt jetzt etwas hochtrabend – was er kann und wozu er da ist. Ich habe bisher keine besseren Gründe gefunden. Literaturwissenschaftler gibt es genug, Dissertationen werden meist eh nicht gelesen, und auch das andere, was ich kenne, ist nicht schlecht, aber für mich bleibt das Literarische zentral, auch wenn es zeitlich eher nebenbei läuft oder zwischendurch. 

Also war da ein intrinsischer Antrieb, keine äußerlichen Faktoren, die motiviert haben, sondern man möchte das eher für sich tun und beenden. Man selbst als der größte Motivator? 

Ja, wobei ein fertiger Text nicht das Gleiche ist wie der Text während seiner Entstehung, er wird selbständig und man ist nicht mehr an ihn gebunden. Während ein Text entsteht, habe ich einen Sinn, und wenn er da ist, habe ich etwas geschafft, der Sinn geht mir gleichzeitig verloren und alles beginnt von vorne. Dann hat sich möglicherweise etwas verändert in der Literaturgeschichte, ein Buch ist entstanden, das es davor nicht gab. Ich habe mich nie gefragt, wozu man Bücher schreiben soll, das war mir klar. Eher frage ich mich, ob ich davon leben kann, ob ich Lust habe auf den Literaturbetrieb, wie ich besser Grenzen setzen kann usw., aber an dem Grundlegenden hatte ich nie Zweifel. 

Wenn der Schreibprozess eigentlich abgeschlossen ist, haben Sie dann Betaleser*innen? Oder irgendjemanden, der das Fertige dann Probe liest? 

Die einzelnen Texte bespreche ich zwischendurch mit anderen Menschen, zum Beispiel war ich oft bei der Textwerkstatt von Tristan Marquardt, als ich nach München gezogen bin. Ich veröffentliche Gedichte oder Auszüge auch vorher in Literaturzeitschriften, die werden, denke ich, kaum gelesen, aber man bekommt Feedback von der Redaktion und hat einen Anlass und eine Frist, an einem Text nochmal konkret zu arbeiten. Dann schicke ich das Ganze an einige Freunde, wenn eine Agentur dazukommt, sagt sie auch oft ihre Meinung, manche Agenturen bieten ein erstes Lektorat an. An sich ist es ein endloser Prozess, auch wenn das Buch fertig ist, wird es für die zweite Auflage überarbeitet usw., restliche Fehler finden sich immer.

Aber es gibt jetzt nicht die eine Person, bei der Sie während des Schreibens wissen, dass diese es als erstes lesen wird? 

Nein, das gar nicht. Wenn ich den Text an einen Verlag oder eine Agentur schicke, habe ich schon von verschiedenen Leuten Feedback bekommen oder im Rahmen eines Stipendiums mit einer Jurybegründung oder bei Lesungen. Manchmal frage ich meinen Mann, er ist Physiker und hat an sich keine Ahnung, hat auch kein einziges Buch von mir gelesen, aber komischerweise versteht er bei strukturellen Fragen genau, was ich meine. Er sagt dann, ob der Text funktioniert oder nicht, vielleicht sogar besser als ein Literaturwissenschaftler.

Praktisch!  Ich wollte fragen, weil Sie es gerade schon angedeutet hatten, dass Sie gleichzeitig produzierten, während sie rezipiert haben durchs Studium und die Dissertation. Wie hat Ihre akademische Ausbildung Ihre Herangehensweise an das Schreiben und den Prozess des Schreibens von eigenen Werken beeinflusst oder inspiriert? 

Ich glaube, ich bin deutlich klüger geworden durch das Studium, das war eine gute Entscheidung, und durch die Promotion auch. Es war eine Investition in die eigene Bildung und das ist eigentlich die beste Investition, die es gibt, die Möglichkeit, zu lesen, was man will, zu schreiben, was man will, und dafür noch ein Gehalt zu bekommen. Während ich aktiv an einem eigenen Text schreibe, versuche ich Texte vor allem zeitgenössischer Autoren zu ignorieren, im Idealfall so gut wie nichts zu lesen, es wiederholen sich sonst unbewusst Sachen und Ideen. Während der Promotion hatte ich vor allem mit dem 19. Jahrhundert zu tun, diese Ästhetik könnte ich gar nicht wiederholen, das würde heute so nicht funktionieren. Und mit toten Autoren stehe ich in keinem Konkurrenzverhältnis, das macht es einfacher. Das klingt vielleicht dumm, aber ich kann einen Dostoevskij viel entspannter lesen, auch weil ich nicht gerade in einer Zeitung sehe, dass er ein Stipendium bekommt, auf das ich mich beworben habe. 

In Ihren wissenschaftlichen Veröffentlichungen und auch in 153 Formen des Nichtseins ist  Dostojewski sehr präsent. Inwiefern hat er Ihre literaturwissenschaftlichen Forschungen, aber auch Ihre kreativen Schreibprojekte maßgeblich beeinflusst? 

Ich habe versucht, in allen Bereichen das zu machen, was mir Spaß macht, und Dostoevskij mochte ich schon als Kind sehr. Für mich vereint er einfach die Themen und literarischen Prinzipien, die mich sehr interessieren, er gehört zu meinem gedanklichen Freundeskreis, sozusagen zu den Leuten, deren Bücher ich mag, ich fühle mich damit verbunden.
Irgendwann während der Promotion war ich auf einer Konferenz, wo Slavisten Kriegsgedichte analysiert haben im Ukraine-Russland-Kontext, und die Texte waren schlichtweg schlecht, ideologisch und kitschig, mit rein inhaltlichem Anspruch, wurden aber sehr ernst betrachtet. Ich glaube, in der Literaturwissenschaft kann man nicht nur wie ein Geologe ins Feld gehen, einen Stein finden und ihn analysieren, man muss noch die Entscheidung treffen, ob es überhaupt zur Literatur gehört und die ganze Zeit und das Geld wert ist. Am Ende habe ich mit einem Exposé zur Habilitation angefangen, und bei einem Kolloquium wurde mir „kill your darlings“ geraten, also andere Themen zu suchen, nichts mit Tod und Leichen mehr. Dieser Empfehlung gefiel mir gar nicht, ich will mich mit dem beschäftigen, was mich wirklich interessiert.

Welche Kriterien könnten das sein, dass man sagt, das ist es wert, Zeit und Geld hineinzustecken? Ist das subjektiv? Was meinen Sie?

Ja, die Frage ist, ob es wirklich hundertprozentig objektive Kriterien gibt. Wenn man viel gelesen und verglichen hat, weiß man ja, was passiert, wenn Literatur einen ideologischen Anspruch hat. Es ist dann egal, ob es faschistische oder sozialistische Literatur ist, ob gut oder böse gemeint, ästhetisch läuft es auf das Gleiche hinaus, auf eine Eindeutigkeit, eine Zweckgerichtetheit. Ähnlich wie wir am Anfang gesagt haben, dass Autoren zu Experten erklärt werden, zu Vertretern irgendwelcher Interessen, das widerspricht, glaube ich, dem Prinzip von Kunst, die im Kern zweckfrei ist. Es gibt natürlich immer Bezüge zum Gesellschaftlichen, das geht gar nicht anders, Sprache funktioniert nur im Sozialen, aber es gibt auch diesen unabhängigen Aspekt.

Wie läuft der Schreibprozess bei Ihnen ab? Haben Sie einen Plan für ein ganzes Buch im Kopf, wenn wir vielleicht von Ihren Prosatexten ausgehen, oder ist es eher ein rein intuitives Schreiben? 

Beides gleichzeitig wahrscheinlich. Vielleicht kann ich Ihnen etwas dazu zeigen. [Öffnet und zeigt den Interviewerinnen ein Word-Dokument]
In zwei Jahren muss ich einen neuen Roman abgeben und versuche in solchen kleinen Abschnitten zu schreiben, zum Beispiel hier etwas zu Aschenputtel oder [liest] Manchmal hält sie einen kleinen Jungen in der Hand, ihren Enkel, manchmal ganz kleine Sachen, [liest] Die Zeichen stehen gut, oder mögliche Namen des Hotels. Angefangen hat es letztes Jahr mit einer Lesung in einem 5-Sterne-Hotel, es gibt solche Häuser, die ihren Gästen Autorenlesungen anbieten, und ich habe überlegt, wie der Alltag einer Putzfrau aussieht, während die Gäste in den Bergen unterwegs sind, ob sie ein Kind hat, ob es Besonderheiten hat zum Beispiel. Das sind jetzt um die vierzehn Seiten. Im Winter war ich in einer Residenz in Frankreich, wo mir etwa Vorschläge geschickt wurden zum Ablauf von Veranstaltungen, hier zum Frauenbild im Wandel, solche Texte kopiere ich auch rein, weil ich denke, dass man ein Seminar auf keinen Fall so gestalten sollte. 
[Zeigt weitere Dokumente] Hier sind dann mögliche Einzelabschnitte als Gliederung. Es wird in dem Roman viel ums Essen gehen, vielleicht auch Barbie im Kino oder Verkehrsunfallsflucht, ich lese Polizeichroniken und fand es neulich spannend, dass man in München, der sichersten Großstadt Deutschlands, ganz gemütlich in einer Straßenbahn fährt, und dann stirbt, weil der Trambahnfahrer bremst, um einen Zusammenstoß zu vermeiden, das ist irgendwie absurd. Oder ich habe Poor Things in Frankreich im Kino gesehen und dazu Notizen gemacht, neulich war ich bei einem Festival in München, Wortspiele, es war ganz furchtbar, dann habe ich versucht, etwas dazu zu schreiben.
Hier ist noch etwas zu Verschwörungstheorien, es soll tatsächlich Leute geben, die zum Beispiel sagen, Deutschland sei eine Firma, nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, und die Bundesregierung sei die Geschäftsführung und so weiter. Das ist Unfug, aber originell auf eine Art. Momentan mache ich mir Notizen zu Derrick, der Schauspieler war wohl früher SS-Mann und die Serie wird nicht mehr gezeigt. Dieser Kontrast, man schaut sich einen harmlosen Krimi an und muss die ganze Zeit daran denken, dass diese Leute aus der NS-Zeit stammen. Oder ich sammle Ausschnitte aus E-Mails, Meinungsbekundungen, oder wenn etwa Autoren in ihren Signaturen schreiben, dass sie keine Pronomen verwenden. 
[Öffnet ein neues Dokument.] Vor kurzem habe ich überlegt, wie man das alles denn zusammenführen könnte. Und hatte die Idee, das Ganze zum Beispiel durch Menüs in einem Hotel zu strukturieren, solche personalisierten Menüs mit Namen und erstem, zweitem, drittem Gang, es sind auch kleine sprachliche Kunstwerke, Essen wird so ungewöhnlich wie möglich beschrieben.
Und dann könnten es Perspektiven verschiedener Figuren werden, man könnte anfangen mit einer Putzfrau und dann wechseln zu zwei Gästen, einer jüngeren Frau, einem älteren Mann. Ich weiß noch nicht, ob das Sinn ergibt, aber ich habe versucht, eine Struktur als Tabelle zu entwerfen. Da sieht man, wer wie oft und wann zur Sprache kommt, wie viele Frauen, wie viele Männer, wer konstant bleibt, wer eine Veränderung durchläuft. Bei den drei Frauen gibt es eine aufsteigende Hierarchie, also Putzfrau, Sekretärin und die Hotelbesitzerin. Wer dann ganz am Ende zu Wort kommt, ist wichtig, ich will auch eine Art Krimi-Plot ausprobieren, auch wenn es wieder kein normaler Roman wird. 

Wir haben ja jetzt schon ein bisschen über Autoren geredet. Wie sehen Sie Ihre Rolle als Autorin im literarischen Werk? 

Also meine Rolle, meine Funktion ist eigentlich nur, einen Text zu schreiben und zu veröffentlichen, das war es. Und heutzutage ihn auch zu bewerben, weil es erwartet wird. Aber an sich war es das, und das finde ich wichtig, dass man die Grenze setzt, dass es eine Arbeit ist wie jede andere auch. Natürlich schon mit Eigenarten, aber Bäcker backen Brötchen und Autoren schreiben eben Bücher. 

Wenn ich hier kurz einhaken darf… Wenn das Buch herausgekommen ist, wird es ja auch einige Rezensionen bekommen. Und wenn Sie diese lesen und merken, dass es da totale Missinterpretationen gibt – falls es überhaupt so etwas wie Missinterpretationen geben kann – wie reagieren Sie? Würden Sie da gerne darauf antworten wollen?

Ich schaue mal kurz, ob ich ein Beispiel finde. [Zeigt die Rezension] Hier neulich in der SZ hat eine Rezensentin drei Bücher zusammengefasst hat zum Thema Mutterschaft. Das fing ganz gut an und dann fasste sie zusammen, „Macht euch mal lockerer, würde man [..] den Frauen darin doch gerne hin und wieder zurufen. Stellt euch vor, mit welchen Zumutungen Mütter kämpfen, deren Einkommen ein paar Klassen tiefer liegen. Und Kinder werden grösser; ehe man sich versieht, wollen sie nichts mehr von einem und sind aus dem Haus. Es ist nur eine Phase, wirklich, ihr bekommt euer selbstbestimmtes Leben wieder. Und wo sind überhaupt die Väter? Die erscheinen in diesen Büchern bestenfalls als willfährige Assistenten. […] Man müsste nicht so sehr um sich selbst kreisen wie diese drei Erzählerinnen.“
In meinem Buch geht es viel um den Vater, der ziemlich präsent ist, eine positivere Figur als die Erzählerin sogar, und zum Thema Privilegiertsein, die Erzählerin ist zwar gebildet, verdient mit ihren Übersetzungen aber weniger als ein Handwerker. Und Kinderhaben als kurze Phase, damit kann man alle sozialen Probleme nivellieren, das ist einfach Quatsch. Man ist mindestens zwanzig Jahre lang für ein Kind verantwortlich, das ist die Mitte des Lebens und karrieretechnisch die wichtigste Zeit, sonst wären Mütter, vor allem auch Alleinerziehende, nicht so oft von Armut und niedriger Rente betroffen.
Oder es gab neulich einen Podcast vom Literaturhaus Berlin, fing wieder gut an, und auf einmal diese Frage zur Autofiktionalität und ihre Bejahung, weil ‒ es gebe ja diese Parallelen zur Autorin. Dabei sagte der Rezensent, dass er mein Buch am Tag davor gelesen habe, das wollte er schnell machen und es sei bei diesem Buch doch nicht gegangen. 
Das sind natürlich Luxusbeschwerden, besser solche Rezensionen als keine, zumal sie positiv ausfallen, ich ärgere mich trotzdem, poste gleichzeitig Danksagungen. Aber gab aber auch sehr schöne Rezensionen, muss man sagen, wo das Buch offensichtlich gelesen wurde und der Text deutlich über die Wiedergabe des Klappentextes und meiner Biografie hinausging, dann habe ich die Danksagungen auch ehrlich gemeint. 

Würden Sie die Rezension der Süddeutschen als eine Missinterpretation bezeichnen?

Ich würde es als Dummheit bezeichnen und als schlecht gemachte Arbeit. Eine Rezension hat auch einen literarischen Anspruch, ist auch eine Kunst, es ist schade, sie nicht ernst zu nehmen. Aber das kann teils wieder am Betrieb liegen. Man verdient meist wenig Geld damit, eine ausführliche Rezension braucht Tage, Wochen, und je nach Zeitung bekommt man 200, 300 Euro dafür, also brutto, das ist nicht viel.

In den beiden Romanen geht es um die Problematik der Mutterrolle, die derzeit auch sehr im Wandel ist. Ist es Ihrer Meinung nach wichtig, darüber zu schreiben?

Es sind viele Bücher zu diesem Thema erschienen, es gab nahezu einen Boom, schon vor ein paar Jahren, als ich mit diesem Buch angefangen habe. Aber ich habe es trotzdem gemacht, weil ich das Ganze anders schreiben wollte. Vielleicht kennen Sie das Buch von Mareike Fallwickel Die Wut, die bleibt. Das liest auch meine Erzählerin und der Anfang vom Buch ist wunderbar, die Mutter steht beim Essen auf und springt vom Balkon und keiner weiß, warum. Danach geht es aber darum, exemplarisch anhand von Figuren verschiedenen Alters Feminismusbewegungen darzustellen, sowas ist schlimm. Und ich wollte genau das Gegenteil, einen dichten Text, der keine klaren Lösungen anbietet, in erster Linie literarisch ist.

Wie gehen Sie mit dem Label oder der Gattung Roman um? 153 Formen des Nichtseins weicht von der geläufigen Romanform ab, wird allerdings als Roman gelabelt.

Zunächst musste ich mich entscheiden, ob ich den Text an Prosa- oder Lyrikverlage schicke. Eigentlich wollte ich einen großen Prosaverlag, auch, weil das Buch für eine breitere Leserschaft geschrieben ist. Darüber haben wir letztes Mal ein wenig gesprochen, dass als Lyrik markierte Bücher selten aus Lyrikzirkeln herausbrechen. Und ich wollte, dass sich das Buch gut verkauft, es ist eine pragmatische Frage, welche Gattungsbezeichnung man wählt, dadurch ändert sich wenig am Text. Der Verlag hat auf dem Cover nochmal „Roman“ geschrieben, damit er in den Buchhandlungen nicht als Sachbuch eingeordnet wird. Und einen „Roman“ kann man für Buchpreise einreichen; auf Buchmessen, in Rezensionen geht es meist um Prosa, ein Verlag hat dadurch mehr Spielraum.
Ich glaube, die Gattungsfrage interessiert mich nicht sehr, auch klassische Romane, ich lese sie selten, wobei wahrscheinlich ein „Roman“ viel mehr sein kann als das, was wir uns darunter vorstellen. Was uns heute als experimentell erscheint, war vor hundert Jahren bestimmt gang und gäbe, vermute ich einfach mal.

Eine abschließende Frage: Sie hatten bereits, als Sie bei uns im Seminar waren, angedeutet, dass es im Verlagswesen sehr populär ist, dass man als Titel ein Zitat aus dem Buch nimmt. Das ist allerdings bei 153 Formen des Nichtseins nicht der Fall. Warum ist Ihnen der Titel hier so wichtig?

Dieser Titel hält das ganze Buch zusammen, er ist programmatisch. Ohne ihn verliert sich der rote Faden, der Zusammenhang alles Kapitel, und mit ihm braucht es keine Erklärung mehr. 
Bei anderen Büchern gab es auch Diskussionen. Vor allem mit Ullstein, da hatte ich aber kein Konzept wie davor. Mir war nur wichtig, dass es kein ausgedachter Titel ist, sondern ein charakteristisches Zitat, das stellvertretend für das Buch steht. Wir haben Listen erstellt, wie auch bei den beiden Lyrikbänden davor, diskutiert, Meinungen eingeholt. Dem Verlag gefiel „Ich werde lebend aus diesem Zimmer kommen“, was aus meiner Sicht nicht passte, die Erzählerin sagt es nicht im Ernst, und so, ohne den Kontext, wäre es eher ein Titel für einen Thriller, das leidende Ich steht zu sehr im Fokus. Das hätte dem Buch geschadet und ich habe versucht, das Schlimmste zu verhindern. Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten, ursprünglich Ich will Wein trinken usw., war ein Zitat, das die Verlegerin im letzten Moment noch im Text entdeckt hat. Aber ich denke, dass die Autorschaft beim Titel trotzdem bei mir geblieben ist.

Vielen Dank! Danke für Ihre Zeit und vielen Dank für die schönen Einblicke!

Das Observationsverhör wurde am 8. Mai 2024 geführt. Das Gespräch führten Greta Fink, Ronja Habeck und Anna Maria Hörl.

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