„Darum komme ich in keinem Buch umhin, auch ständig über den Tod nachzudenken.“ Observationsverhör mit Valerie Fritsch (2)
Zum zweiten Mal in Folge veranstaltete die LMU München zusammen mit der Schwabenakademie Irsee und Universität Augsburg 2023 das Projekt Writing under Observation – Labor literarischen Schreibens. Zu Gast war Valerie Fritsch, Autorin des Suhrkamp Verlags. Vor einem universitären Germanistik- und Ethnologie-Publikum gab sie exklusive Einblicke in ihre Textproduktion, ihre aktuellen Themen und Auskunft über ihr bisheriges Werk. Die daraus entstandenen Interviews werden im Laufe der nächsten Wochen im Literaturportal Bayern zu lesen sein.
Valerie Fritsch, 1989 in Graz geboren, wuchs in Graz und Kärnten auf. Nach ihrer Reifeprüfung 2007 absolvierte sie ein Studium an der Akademie für angewandte Photographie und arbeitet seither als Fotokünstlerin. Sie ist Mitglied des Grazer Autorenkollektivs plattform. 2015 erschien ihr Roman Winters Garten, 2020 folgte Herzklappen von Johnson & Johnson. Die Autorin lebt in Graz und Wien.
*
Unsere erste Frage wäre, was Sie denn zum Schreiben bewegt. Gibt es bestimmte Tätigkeiten oder Themen, die Sie zum Schreiben motivieren oder Ihnen besonders viel Inspiration bringen?
Es gibt fast nichts, was keine Inspiration ist. Und jetzt komme ich gerade frisch aus einem Text, deswegen muss ich auch eine rauchen, um wieder in der richtigen Welt anzukommen. (Sie lacht.) Und Themen können es alle sein. Jetzt arbeite ich gerade an einem Porträt eines Mannes, der einen Mordversuch überlebt hat, und habe gerade nach langen Gesprächen mit ihm und seinem Ersthelfer darüber geschrieben. Und deswegen habe ich jetzt auch dringend eine Zigarette gebraucht, um wieder anzukommen. (Sie lacht.)
Lesen Sie selbst gerne? Und wenn ja, was lesen Sie gerne?
Ja … Ich glaube, es wäre sehr unhöflich, wenn ich als Autorin nicht gerne lesen würde und meine Liebe zur Literatur nur aktiv und gar nicht passiv wäre. Ich lese natürlich viel und gerne und sehr bunt gemischt. Viel Fachliteratur für die Recherchen – aber wenn es um nichts geht und ich es nicht verarbeiten muss, dann in allen Bereichen. Gerade lese ich ein englisches Buch über das Konfliktmanagement von Wildtieren und Bären. Darin geht es darum, wie man aggressive Bären in Konfliktcoachings davon abhält, Menschen anzugreifen. Literarisch bin ich eine große Freundin meines Landsmannes Clemens Setz oder auch von Swetlana Alexijewitsch oder Herta Müller, die mich immer wieder begeistern.
Wie stehen Sie im Allgemeinen zu Interviews? Ein Autor oder eine Autorin stellt man sich immer eher introvertiert vor – der Beruf verlangt von einem, sich in Texten zu verlieren, und ein Interview ist dann eigentlich genau die entgegengesetzte Situation. War das am Anfang eine Herausforderung für Sie oder ist es das vielleicht immer noch? Können Sie sich währenddessen selbst gut repräsentieren?
Ich glaube, das lernt man mit den Jahren. Aber es ist auch eine Typfrage – nicht alle Schriftsteller*innen sind introvertiert. Manche sind extreme Rampensäue und lieben es, sich in ihrem eigenen Licht zu bespiegeln und möchten auch nie wieder aufhören zu reden – von sich selbst natürlich, weil etwas anderes ist ja gar nicht so interessant. Aber ich bin tatsächlich lieber hinter meinen Texten und auch hinter der Kamera. Mit Fernsehauftritten und Interviews tut man mir immer etwas an, aber es ist der Preis, den man bezahlt, wenn man das professionell macht und vom Schreiben leben möchte. Und man ist es natürlich auch dem Buch schuldig, eine Schnittstelle zur Öffentlichkeit zu sein.
Haben Sie dazu vielleicht eine interessante Geschichte für uns? Vielleicht hatten Sie während eines Interviews auch schon einmal einen neuen Gedankengang oder ein überraschendes Erlebnis? Oder sind es immer ähnliche Fragen, bei denen Sie schon wissen, wie das Gespräch verlaufen wird?
Das ist ganz verschieden. Es gibt ganz tolle und kluge Journalist*innen, die sich wirklich damit beschäftigen und interessante Fragen haben – andere wiederum haben das Buch wahrscheinlich nie gelesen und sind Literatur generell nicht zugeneigt, was man ihren Fragen auch anmerkt. Es ist sehr verschieden, es entstehen hin und wieder aber ganz intime und persönliche Gespräche aus solchen Interviews, das kann auch passieren. Wenn sich zwei Menschen gegenübersitzen, ist man nie gefeit davor, dass etwas Schönes und Intimes entsteht und man hin und wieder sogar einen neuen Gedanken hat – die Leser*innen haben natürlich andere Gedanken als ich als Schreiberin. Ich denke die Rezeption gar nicht mit.
Aber Sie haben keinen konkreten Gedanken oder Moment im Kopf, der Sie weitergebracht hat?
Ich fürchte nicht, nein, das ist noch nicht geschehen. Es passieren immer wieder skurrile Dinge – ich hatte mal ein sehr schönes Interview mit einem Journalisten, der blind war und den ich dann zu einem Gespräch getroffen habe. Er hatte sich das ganze Buch vorlesen lassen und dadurch eine ganz besondere Erfahrung gewonnen von dieser organischen Komponente des Schreibens. Alles, was man fühlt und riecht und schmeckt und sieht, kam bei ihm sehr viel intensiver an und dadurch hat er die Lektüre sehr genossen. Das Gespräch begann schon wie in einem Film, denn ich habe in einem Café auf ihn gewartet, an einem bestimmten Ort, an den er gut hinfinden konnte. Ich saß an der Glasscheibe dieses Cafés und er hat den Eingang nicht gefunden. Und er knallte dann … (sie lacht) wie eine Fliege direkt an die Scheibe, hinter der ich saß, und ich musste ihn dann suchen gehen und von draußen hereinretten. Wir haben beide gelacht, es war sehr lustig.
Vielen Dank für diese Anekdote! Nun würden wir ein bisschen inhaltlicher in Winters Garten einsteigen. Wie entstand denn die Idee zu Winters Garten? Wie waren die Anfänge dazu?
Hm, das ist ja auch schon so lange her … Es ist immer schwierig, sich an seine alten Bücher zu erinnern. Aber ich kann mich noch erinnern, dass es mich damals sehr beschäftigt hat, eine Welt zu entwerfen. Das ist natürlich das Schönste, eine Welt, die man ganz frei entwerfen kann, weil es keine direkten Schablonen dafür gibt. Also eine Welt des Untergangs, ein Szenario, das so noch nicht da war, also keiner direkten Realität entspricht, und mich zu fragen, was wächst weiter, wenn eigentlich alles vergeht, wenn die Welt sozusagen ein Ablaufdatum hat, und wie reagiert der Mensch und auch das Tier und auch die Pflanze in einer Welt, die zu Ende geht und man weiß es auch schon, wie widerständig ist man, und was tun sich dort für Formen der Anarchie auf? Und dem wollte ich dann nachgehen. Das habe ich dann auch ein paar Jahre durchdacht und irgendwann aufgeschrieben.
Okay, spannend. Das heißt, es hat auch ein paar Jahre gedauert, die Recherche dazu durchzuführen? Oder wie sind Sie da vorgegangen? Sie hatten schon erwähnt, dass Sie bezüglich der Recherche oft mit betroffenen Personen sprechen oder vielfach Literatur zu dem jeweiligen Thema lesen. Wie war es bei Winters Garten?
Das ist bei dem Thema Weltuntergang schwieriger, oder? (Sie lacht.) Die Leute, die daran glauben, bereiten sich darauf vor, aber haben ihn noch nicht erlebt und haben dann auch eher einen anderen Zugang dazu. In dem Fall habe ich mich eher mit den Themen, die drin vorkommen, in der Recherche beschäftigt. Also ich habe viel über die Vogelzucht gelernt, wie das funktioniert, Vögel aufzuziehen und zu vermehren. Ich habe mir für die Szene mit den Toten in Leichenschauhäusern tote Menschen angesehen. Ich habe in Hamburg das Glück gehabt, dass mich jemand mitgenommen hat, und ich durfte auch sezieren, um mir diese Körper, von denen ich schreibe, direkt anzuschauen. Auch über den Geigenbau habe ich mich informiert. Ich habe einen Geigenbauer besucht und mit den Instrumenten zu tun gehabt. Das waren sozusagen eher die Kollateral-Themen, nachdem man die Apokalypse so schwer recherchieren kann.
Okay, also quasi das ‚Drumherum‘?
Das ‚Drumherum‘, die ganze Atmosphäre, also alles, was in dieser Welt stattgefunden hat und was sie bewohnbar gemacht hat. Das habe ich mir dann angesehen.
In Bezug auf die Recherche würde uns noch interessieren, wie Sie denn zu den Namen Ihrer Figuren kommen. Uns ist aufgefallen, dass die Hauptfiguren in Winters Garten Anton und Frederike heißen und in Herzklappen von Johnson & Johnson haben wir dann Alma und Friedrich. Ist das ein Zufall, dass beide mit A und F beginnen, oder war das absichtlich von Ihnen so vernetzt?
Das habe ich mich vor Kurzem auch gefragt, als ich jetzt das neue Buch begonnen habe und dann die Hauptfigur August heißt und es schon wieder ein Name mit A ist. Dann habe ich kurz überlegt, ob ich jetzt auch wieder eine Nebenfigur mit einem F machen soll, aber es hat sich dann doch nicht ergeben. Aber tatsächlich für die Namen ..., die Namen schreibe ich mir ständig auf, wenn ich zum Beispiel auf Grabsteinen hin und wieder tolle Namenskombinationen lese, dann notiere ich mir das, oder wenn ich in einer Bar jemanden kennenlerne, der einen Romannamen – wie ich finde – trägt, dann notiere ich mir das. Und Anton Winter ist tatsächlich in Graz, in meiner Heimatstadt, ein älterer Barkeeper gewesen, in einer Bar namens Das Känguru, und hat einen Abend auf mich eingeredet und irgendwann gesagt, er heißt Anton Winter, und ich habe mir gedacht, Anton Winter, das ist ein Name für ein Buch, das muss in ein Buch, perfekt, den nehme ich einfach, den klaue ich, den nehme ich aus der Welt mit. Ja, den habe ich dann sozusagen für mich beansprucht.
Die nächste Frage bezieht sich auch auf den Roman Winters Garten, über den Sie erwähnt hatten, dass diese Totenwelt, diese Apokalypse ein sehr wichtiges und gut aufgearbeitetes Motiv in dem Roman ist, das auch die Verhaltensweise, die Weltanschauung der Menschen komplett modifiziert zu haben scheint. Was ist Ihr persönlicher Berührungspunkt mit diesem Thema und welche Rolle spielt es in dem ganzen Roman?
Der persönliche Berührungspunkt zur Apokalypse? Er ist einerseits, würde ich sagen, ein ästhetischer, also einer dieser Art von Verfall und von einem Verderben der Welt, das natürlich viele ästhetische Gesichtspunkte hat, die spannend sind, eine eigene Form der Schönheit, wenn man so möchte – die Schönheit des Verfalls. Und außerdem hat mich der Tod, seit ich denken kann, immer viel beschäftigt. Also nicht nur auf einer künstlerischen Ebene, sondern auch mit meiner Familiengeschichte und auch für mich selbst. Mir war sehr früh klar, dass man nur einmal lebt und dann für immer tot ist und diesen Tod immer auch als in sich angelegt, als allumfassende Vergänglichkeit mit sich trägt. Jeder trägt es, jeder hat es, es ist der kleinste gemeinsame Nenner, und etwas so Großes muss das Leben beeinflussen, immer, wenn man es weiß. Darum komme ich in keinem Buch umhin, auch ständig über den Tod nachzudenken und ihn immer neu auszuloten und mich ihm aus verschiedenen Perspektiven anzunähern, weil ich weiß, wir haben ihn alle gemein und er ist ziemlich wichtig.
Einige Motive wie zum Beispiel das Vogelzüchten und das Schlafwandeln in Ihren Romanen sind immer wiederkehrend. Welcher Gedanke steht dahinter, wenn Sie so ein vertrautes Thema, ein vertrautes Motiv erneut aufgreifen?
Das sind einfach Motive oder vielleicht so etwas wie atmosphärische Einrichtungsgegenstände eines Romans. Mit Vögeln erzeugt man eine gewisse Stimmung, vielleicht auch eine Melancholie, und auch das Schlafwandeln empfand ich immer als eine große Faszination. Das Unbewusste, das Menschen leitet, die ohne Bewusstsein oder mit halbem Bewusstsein durch die Welt wandeln und durch ihre Häuser und Familien. Da kann man eigentlich nicht genug darüber schreiben. Ich fürchte es kommt sogar immer wieder vor, wenn es einen mal gepackt hat, dann wird man gewisse Motive ja auch gar nicht mehr los.
Sie haben erwähnt, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod in Ihren Romanen eine Rolle spielt. Gerade am Ende von Winters Garten, wenn die Stadt untergeht, ist das ja ein Massentod, der durch ein Feuer hervorgerufen wird. Wieso geht die Stadt denn ausgerechnet im Feuer unter und nicht beispielsweise durch eine Überschwemmung oder einen Sturm, zumal die Stadt auch am Meer liegt?
Sie meinen, das ist gar nicht so logisch. Ich kann Ihnen da nur zustimmen. Ich weiß auch nicht genau. Ich könnte Ihnen auch nicht sagen, wodurch der Weltuntergang genau ausgelöst ist und wird. Das weiß ich nicht, das ist ja eine theoretische Annahme. Aber in einer Form der Zerstörung. Ich würde sagen, wahrscheinlich passieren nebenher auch ganz viele Dinge abseits dieses Feuers und das ist nur ein Blick, den man aus der Ferne erhascht. Was dort genau geschieht, entzieht sich auch meiner Kenntnis.
Sie haben mit uns auch schon geteilt, dass Sie Themen in Ihren Büchern verarbeiten, die Sie persönlich betreffen, und mit diesem Hintergrund wäre es spannend zu erfahren, welche Botschaften oder Ansichten Sie mit Winters Garten vermitteln möchten und ob Ihr persönliches Weltbild und verschiedene Ansichten zum Ausdruck kommen.
Tatsächlich möchte ich niemals irgendjemandem eine Botschaft mitgeben. Ich sehe das Schreiben als vollkommen unpädagogisch und ich möchte niemanden belehren und schon gar nicht jemanden mit irgendeiner bestimmten Nachricht über die Welt oder meiner bestimmten Meinung über die Welt versorgen – das liegt mir ganz und gar fern. Ich möchte immer nur eine Geschichte erzählen und eine Welt bauen, in die dann Leser*innen Einblick erhalten. Aber was sie daraus mitnehmen, das ist mir ganz egal. Und das ist wahrscheinlich auch sehr verschieden. Manche Leute finden eine Art der Verstörung darin oder auch eine Form von Trost und Schönheit, manche können sich gar nicht damit identifizieren. Das ist ganz verschieden. Und ich finde nichts davon schlechter als das andere.
Also würden Sie sagen, Sie sind so eine Art Weltenbauerin?
Ich denke, damit könnte ich mich unter anderem anfreunden, ja. Aber ohne Zeigefinger sozusagen.
Sie haben erwähnt, Sie hätten schon früh vorgehabt, beim Suhrkamp Verlag zu veröffentlichen. Hat Sie das emotional berührt oder vielleicht auch ein Stück weit verändert, als es dann Wirklichkeit geworden ist und Sie ihr lang ersehntes Ziel erreicht haben?
Ja, es hat mich glücklich gemacht, also im Wortsinn. Es hat mich überrascht. Es ist ein großer Wunsch oder eine Sehnsucht, die man lange hegt, dann plötzlich eintritt, obwohl es ja sehr unwahrscheinlich ist, dass man als Autor*in je von der Literatur leben kann – es ist sehr unwahrscheinlich, dass man bei einem so großen und renommierten Verlag, dem Wunschverlag, irgendwie eine Familie findet. Das war und ist es auch immer noch geblieben, ein Glück. Es hat mich beglückt, dass ich so arbeiten kann. Und als damals die Nachricht kam, musste ich einfach um elf Uhr vormittags einen Schnaps trinken, um das große Glück zu verarbeiten und auch zu begießen, das war irgendwie unumgänglich.
Haben Sie vorher einmal in Betracht gezogen, dass Sie auch scheitern oder aus finanzieller Sicht nicht allein vom Schreiben leben könnten? Hatten Sie auch alternative Berufsideen?
Ja, also es ist sehr wahrscheinlich, dass man scheitert. Mir war immer klar, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass das eintreffen wird, und ich wollte auch nie prekär leben. Ich wollte nie eine Autorin sein, die einen Brotberuf hat, um dann nebenher schreiben zu können. Ich wollte wirklich, wenn ich das mache, dass es mein ganzes Leben ist und auch gut funktioniert und ich davon auch so sicher leben kann, dass ich mir keine großen Sorgen machen muss. Also große Sorgen in dem Sinne, dass es wirklich prekär ist. Ich meine, natürlich hat man als Autor*in immer wechselnde Jahre, mal besser, mal schlechter – das ist sehr zyklisch. Aber das ist vollkommen in Ordnung und ich habe mir immer gedacht, wenn ich scheitere, was natürlich absolut möglich war, dann lasse ich das sein und mache ganz etwas anderes. Ich hatte immer das Gefühl, ich habe ein gutes Hirn, habe gut gelernt, das war alles kein Problem. Dann mache ich eine Ausbildung oder doch noch ein Studium und werde Immobilienmaklerin oder Meeresbiologin, wer weiß. Es ist auch nicht beschämend. Man macht dann zwar etwas anderes, dafür macht man das gut. Das ist ein Scheitern in einem Bereich und der Segen für etwas anderes, auch wenn es mit der Literatur nicht klappt.
Das Observationsverhör wurde am 5. Mai 2023 geführt.
Das Gespräch führten Elena Endres, Emily Schrön, Jasmin Geppert, Samira Mamisch, Yuwei Liu, Max Lieber und Silke Plösch.
Den nächsten Teil lesen Sie am 1. September hier im Journal unter Writing under Observation.
„Darum komme ich in keinem Buch umhin, auch ständig über den Tod nachzudenken.“ Observationsverhör mit Valerie Fritsch (2)>
Zum zweiten Mal in Folge veranstaltete die LMU München zusammen mit der Schwabenakademie Irsee und Universität Augsburg 2023 das Projekt Writing under Observation – Labor literarischen Schreibens. Zu Gast war Valerie Fritsch, Autorin des Suhrkamp Verlags. Vor einem universitären Germanistik- und Ethnologie-Publikum gab sie exklusive Einblicke in ihre Textproduktion, ihre aktuellen Themen und Auskunft über ihr bisheriges Werk. Die daraus entstandenen Interviews werden im Laufe der nächsten Wochen im Literaturportal Bayern zu lesen sein.
Valerie Fritsch, 1989 in Graz geboren, wuchs in Graz und Kärnten auf. Nach ihrer Reifeprüfung 2007 absolvierte sie ein Studium an der Akademie für angewandte Photographie und arbeitet seither als Fotokünstlerin. Sie ist Mitglied des Grazer Autorenkollektivs plattform. 2015 erschien ihr Roman Winters Garten, 2020 folgte Herzklappen von Johnson & Johnson. Die Autorin lebt in Graz und Wien.
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Unsere erste Frage wäre, was Sie denn zum Schreiben bewegt. Gibt es bestimmte Tätigkeiten oder Themen, die Sie zum Schreiben motivieren oder Ihnen besonders viel Inspiration bringen?
Es gibt fast nichts, was keine Inspiration ist. Und jetzt komme ich gerade frisch aus einem Text, deswegen muss ich auch eine rauchen, um wieder in der richtigen Welt anzukommen. (Sie lacht.) Und Themen können es alle sein. Jetzt arbeite ich gerade an einem Porträt eines Mannes, der einen Mordversuch überlebt hat, und habe gerade nach langen Gesprächen mit ihm und seinem Ersthelfer darüber geschrieben. Und deswegen habe ich jetzt auch dringend eine Zigarette gebraucht, um wieder anzukommen. (Sie lacht.)
Lesen Sie selbst gerne? Und wenn ja, was lesen Sie gerne?
Ja … Ich glaube, es wäre sehr unhöflich, wenn ich als Autorin nicht gerne lesen würde und meine Liebe zur Literatur nur aktiv und gar nicht passiv wäre. Ich lese natürlich viel und gerne und sehr bunt gemischt. Viel Fachliteratur für die Recherchen – aber wenn es um nichts geht und ich es nicht verarbeiten muss, dann in allen Bereichen. Gerade lese ich ein englisches Buch über das Konfliktmanagement von Wildtieren und Bären. Darin geht es darum, wie man aggressive Bären in Konfliktcoachings davon abhält, Menschen anzugreifen. Literarisch bin ich eine große Freundin meines Landsmannes Clemens Setz oder auch von Swetlana Alexijewitsch oder Herta Müller, die mich immer wieder begeistern.
Wie stehen Sie im Allgemeinen zu Interviews? Ein Autor oder eine Autorin stellt man sich immer eher introvertiert vor – der Beruf verlangt von einem, sich in Texten zu verlieren, und ein Interview ist dann eigentlich genau die entgegengesetzte Situation. War das am Anfang eine Herausforderung für Sie oder ist es das vielleicht immer noch? Können Sie sich währenddessen selbst gut repräsentieren?
Ich glaube, das lernt man mit den Jahren. Aber es ist auch eine Typfrage – nicht alle Schriftsteller*innen sind introvertiert. Manche sind extreme Rampensäue und lieben es, sich in ihrem eigenen Licht zu bespiegeln und möchten auch nie wieder aufhören zu reden – von sich selbst natürlich, weil etwas anderes ist ja gar nicht so interessant. Aber ich bin tatsächlich lieber hinter meinen Texten und auch hinter der Kamera. Mit Fernsehauftritten und Interviews tut man mir immer etwas an, aber es ist der Preis, den man bezahlt, wenn man das professionell macht und vom Schreiben leben möchte. Und man ist es natürlich auch dem Buch schuldig, eine Schnittstelle zur Öffentlichkeit zu sein.
Haben Sie dazu vielleicht eine interessante Geschichte für uns? Vielleicht hatten Sie während eines Interviews auch schon einmal einen neuen Gedankengang oder ein überraschendes Erlebnis? Oder sind es immer ähnliche Fragen, bei denen Sie schon wissen, wie das Gespräch verlaufen wird?
Das ist ganz verschieden. Es gibt ganz tolle und kluge Journalist*innen, die sich wirklich damit beschäftigen und interessante Fragen haben – andere wiederum haben das Buch wahrscheinlich nie gelesen und sind Literatur generell nicht zugeneigt, was man ihren Fragen auch anmerkt. Es ist sehr verschieden, es entstehen hin und wieder aber ganz intime und persönliche Gespräche aus solchen Interviews, das kann auch passieren. Wenn sich zwei Menschen gegenübersitzen, ist man nie gefeit davor, dass etwas Schönes und Intimes entsteht und man hin und wieder sogar einen neuen Gedanken hat – die Leser*innen haben natürlich andere Gedanken als ich als Schreiberin. Ich denke die Rezeption gar nicht mit.
Aber Sie haben keinen konkreten Gedanken oder Moment im Kopf, der Sie weitergebracht hat?
Ich fürchte nicht, nein, das ist noch nicht geschehen. Es passieren immer wieder skurrile Dinge – ich hatte mal ein sehr schönes Interview mit einem Journalisten, der blind war und den ich dann zu einem Gespräch getroffen habe. Er hatte sich das ganze Buch vorlesen lassen und dadurch eine ganz besondere Erfahrung gewonnen von dieser organischen Komponente des Schreibens. Alles, was man fühlt und riecht und schmeckt und sieht, kam bei ihm sehr viel intensiver an und dadurch hat er die Lektüre sehr genossen. Das Gespräch begann schon wie in einem Film, denn ich habe in einem Café auf ihn gewartet, an einem bestimmten Ort, an den er gut hinfinden konnte. Ich saß an der Glasscheibe dieses Cafés und er hat den Eingang nicht gefunden. Und er knallte dann … (sie lacht) wie eine Fliege direkt an die Scheibe, hinter der ich saß, und ich musste ihn dann suchen gehen und von draußen hereinretten. Wir haben beide gelacht, es war sehr lustig.
Vielen Dank für diese Anekdote! Nun würden wir ein bisschen inhaltlicher in Winters Garten einsteigen. Wie entstand denn die Idee zu Winters Garten? Wie waren die Anfänge dazu?
Hm, das ist ja auch schon so lange her … Es ist immer schwierig, sich an seine alten Bücher zu erinnern. Aber ich kann mich noch erinnern, dass es mich damals sehr beschäftigt hat, eine Welt zu entwerfen. Das ist natürlich das Schönste, eine Welt, die man ganz frei entwerfen kann, weil es keine direkten Schablonen dafür gibt. Also eine Welt des Untergangs, ein Szenario, das so noch nicht da war, also keiner direkten Realität entspricht, und mich zu fragen, was wächst weiter, wenn eigentlich alles vergeht, wenn die Welt sozusagen ein Ablaufdatum hat, und wie reagiert der Mensch und auch das Tier und auch die Pflanze in einer Welt, die zu Ende geht und man weiß es auch schon, wie widerständig ist man, und was tun sich dort für Formen der Anarchie auf? Und dem wollte ich dann nachgehen. Das habe ich dann auch ein paar Jahre durchdacht und irgendwann aufgeschrieben.
Okay, spannend. Das heißt, es hat auch ein paar Jahre gedauert, die Recherche dazu durchzuführen? Oder wie sind Sie da vorgegangen? Sie hatten schon erwähnt, dass Sie bezüglich der Recherche oft mit betroffenen Personen sprechen oder vielfach Literatur zu dem jeweiligen Thema lesen. Wie war es bei Winters Garten?
Das ist bei dem Thema Weltuntergang schwieriger, oder? (Sie lacht.) Die Leute, die daran glauben, bereiten sich darauf vor, aber haben ihn noch nicht erlebt und haben dann auch eher einen anderen Zugang dazu. In dem Fall habe ich mich eher mit den Themen, die drin vorkommen, in der Recherche beschäftigt. Also ich habe viel über die Vogelzucht gelernt, wie das funktioniert, Vögel aufzuziehen und zu vermehren. Ich habe mir für die Szene mit den Toten in Leichenschauhäusern tote Menschen angesehen. Ich habe in Hamburg das Glück gehabt, dass mich jemand mitgenommen hat, und ich durfte auch sezieren, um mir diese Körper, von denen ich schreibe, direkt anzuschauen. Auch über den Geigenbau habe ich mich informiert. Ich habe einen Geigenbauer besucht und mit den Instrumenten zu tun gehabt. Das waren sozusagen eher die Kollateral-Themen, nachdem man die Apokalypse so schwer recherchieren kann.
Okay, also quasi das ‚Drumherum‘?
Das ‚Drumherum‘, die ganze Atmosphäre, also alles, was in dieser Welt stattgefunden hat und was sie bewohnbar gemacht hat. Das habe ich mir dann angesehen.
In Bezug auf die Recherche würde uns noch interessieren, wie Sie denn zu den Namen Ihrer Figuren kommen. Uns ist aufgefallen, dass die Hauptfiguren in Winters Garten Anton und Frederike heißen und in Herzklappen von Johnson & Johnson haben wir dann Alma und Friedrich. Ist das ein Zufall, dass beide mit A und F beginnen, oder war das absichtlich von Ihnen so vernetzt?
Das habe ich mich vor Kurzem auch gefragt, als ich jetzt das neue Buch begonnen habe und dann die Hauptfigur August heißt und es schon wieder ein Name mit A ist. Dann habe ich kurz überlegt, ob ich jetzt auch wieder eine Nebenfigur mit einem F machen soll, aber es hat sich dann doch nicht ergeben. Aber tatsächlich für die Namen ..., die Namen schreibe ich mir ständig auf, wenn ich zum Beispiel auf Grabsteinen hin und wieder tolle Namenskombinationen lese, dann notiere ich mir das, oder wenn ich in einer Bar jemanden kennenlerne, der einen Romannamen – wie ich finde – trägt, dann notiere ich mir das. Und Anton Winter ist tatsächlich in Graz, in meiner Heimatstadt, ein älterer Barkeeper gewesen, in einer Bar namens Das Känguru, und hat einen Abend auf mich eingeredet und irgendwann gesagt, er heißt Anton Winter, und ich habe mir gedacht, Anton Winter, das ist ein Name für ein Buch, das muss in ein Buch, perfekt, den nehme ich einfach, den klaue ich, den nehme ich aus der Welt mit. Ja, den habe ich dann sozusagen für mich beansprucht.
Die nächste Frage bezieht sich auch auf den Roman Winters Garten, über den Sie erwähnt hatten, dass diese Totenwelt, diese Apokalypse ein sehr wichtiges und gut aufgearbeitetes Motiv in dem Roman ist, das auch die Verhaltensweise, die Weltanschauung der Menschen komplett modifiziert zu haben scheint. Was ist Ihr persönlicher Berührungspunkt mit diesem Thema und welche Rolle spielt es in dem ganzen Roman?
Der persönliche Berührungspunkt zur Apokalypse? Er ist einerseits, würde ich sagen, ein ästhetischer, also einer dieser Art von Verfall und von einem Verderben der Welt, das natürlich viele ästhetische Gesichtspunkte hat, die spannend sind, eine eigene Form der Schönheit, wenn man so möchte – die Schönheit des Verfalls. Und außerdem hat mich der Tod, seit ich denken kann, immer viel beschäftigt. Also nicht nur auf einer künstlerischen Ebene, sondern auch mit meiner Familiengeschichte und auch für mich selbst. Mir war sehr früh klar, dass man nur einmal lebt und dann für immer tot ist und diesen Tod immer auch als in sich angelegt, als allumfassende Vergänglichkeit mit sich trägt. Jeder trägt es, jeder hat es, es ist der kleinste gemeinsame Nenner, und etwas so Großes muss das Leben beeinflussen, immer, wenn man es weiß. Darum komme ich in keinem Buch umhin, auch ständig über den Tod nachzudenken und ihn immer neu auszuloten und mich ihm aus verschiedenen Perspektiven anzunähern, weil ich weiß, wir haben ihn alle gemein und er ist ziemlich wichtig.
Einige Motive wie zum Beispiel das Vogelzüchten und das Schlafwandeln in Ihren Romanen sind immer wiederkehrend. Welcher Gedanke steht dahinter, wenn Sie so ein vertrautes Thema, ein vertrautes Motiv erneut aufgreifen?
Das sind einfach Motive oder vielleicht so etwas wie atmosphärische Einrichtungsgegenstände eines Romans. Mit Vögeln erzeugt man eine gewisse Stimmung, vielleicht auch eine Melancholie, und auch das Schlafwandeln empfand ich immer als eine große Faszination. Das Unbewusste, das Menschen leitet, die ohne Bewusstsein oder mit halbem Bewusstsein durch die Welt wandeln und durch ihre Häuser und Familien. Da kann man eigentlich nicht genug darüber schreiben. Ich fürchte es kommt sogar immer wieder vor, wenn es einen mal gepackt hat, dann wird man gewisse Motive ja auch gar nicht mehr los.
Sie haben erwähnt, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod in Ihren Romanen eine Rolle spielt. Gerade am Ende von Winters Garten, wenn die Stadt untergeht, ist das ja ein Massentod, der durch ein Feuer hervorgerufen wird. Wieso geht die Stadt denn ausgerechnet im Feuer unter und nicht beispielsweise durch eine Überschwemmung oder einen Sturm, zumal die Stadt auch am Meer liegt?
Sie meinen, das ist gar nicht so logisch. Ich kann Ihnen da nur zustimmen. Ich weiß auch nicht genau. Ich könnte Ihnen auch nicht sagen, wodurch der Weltuntergang genau ausgelöst ist und wird. Das weiß ich nicht, das ist ja eine theoretische Annahme. Aber in einer Form der Zerstörung. Ich würde sagen, wahrscheinlich passieren nebenher auch ganz viele Dinge abseits dieses Feuers und das ist nur ein Blick, den man aus der Ferne erhascht. Was dort genau geschieht, entzieht sich auch meiner Kenntnis.
Sie haben mit uns auch schon geteilt, dass Sie Themen in Ihren Büchern verarbeiten, die Sie persönlich betreffen, und mit diesem Hintergrund wäre es spannend zu erfahren, welche Botschaften oder Ansichten Sie mit Winters Garten vermitteln möchten und ob Ihr persönliches Weltbild und verschiedene Ansichten zum Ausdruck kommen.
Tatsächlich möchte ich niemals irgendjemandem eine Botschaft mitgeben. Ich sehe das Schreiben als vollkommen unpädagogisch und ich möchte niemanden belehren und schon gar nicht jemanden mit irgendeiner bestimmten Nachricht über die Welt oder meiner bestimmten Meinung über die Welt versorgen – das liegt mir ganz und gar fern. Ich möchte immer nur eine Geschichte erzählen und eine Welt bauen, in die dann Leser*innen Einblick erhalten. Aber was sie daraus mitnehmen, das ist mir ganz egal. Und das ist wahrscheinlich auch sehr verschieden. Manche Leute finden eine Art der Verstörung darin oder auch eine Form von Trost und Schönheit, manche können sich gar nicht damit identifizieren. Das ist ganz verschieden. Und ich finde nichts davon schlechter als das andere.
Also würden Sie sagen, Sie sind so eine Art Weltenbauerin?
Ich denke, damit könnte ich mich unter anderem anfreunden, ja. Aber ohne Zeigefinger sozusagen.
Sie haben erwähnt, Sie hätten schon früh vorgehabt, beim Suhrkamp Verlag zu veröffentlichen. Hat Sie das emotional berührt oder vielleicht auch ein Stück weit verändert, als es dann Wirklichkeit geworden ist und Sie ihr lang ersehntes Ziel erreicht haben?
Ja, es hat mich glücklich gemacht, also im Wortsinn. Es hat mich überrascht. Es ist ein großer Wunsch oder eine Sehnsucht, die man lange hegt, dann plötzlich eintritt, obwohl es ja sehr unwahrscheinlich ist, dass man als Autor*in je von der Literatur leben kann – es ist sehr unwahrscheinlich, dass man bei einem so großen und renommierten Verlag, dem Wunschverlag, irgendwie eine Familie findet. Das war und ist es auch immer noch geblieben, ein Glück. Es hat mich beglückt, dass ich so arbeiten kann. Und als damals die Nachricht kam, musste ich einfach um elf Uhr vormittags einen Schnaps trinken, um das große Glück zu verarbeiten und auch zu begießen, das war irgendwie unumgänglich.
Haben Sie vorher einmal in Betracht gezogen, dass Sie auch scheitern oder aus finanzieller Sicht nicht allein vom Schreiben leben könnten? Hatten Sie auch alternative Berufsideen?
Ja, also es ist sehr wahrscheinlich, dass man scheitert. Mir war immer klar, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass das eintreffen wird, und ich wollte auch nie prekär leben. Ich wollte nie eine Autorin sein, die einen Brotberuf hat, um dann nebenher schreiben zu können. Ich wollte wirklich, wenn ich das mache, dass es mein ganzes Leben ist und auch gut funktioniert und ich davon auch so sicher leben kann, dass ich mir keine großen Sorgen machen muss. Also große Sorgen in dem Sinne, dass es wirklich prekär ist. Ich meine, natürlich hat man als Autor*in immer wechselnde Jahre, mal besser, mal schlechter – das ist sehr zyklisch. Aber das ist vollkommen in Ordnung und ich habe mir immer gedacht, wenn ich scheitere, was natürlich absolut möglich war, dann lasse ich das sein und mache ganz etwas anderes. Ich hatte immer das Gefühl, ich habe ein gutes Hirn, habe gut gelernt, das war alles kein Problem. Dann mache ich eine Ausbildung oder doch noch ein Studium und werde Immobilienmaklerin oder Meeresbiologin, wer weiß. Es ist auch nicht beschämend. Man macht dann zwar etwas anderes, dafür macht man das gut. Das ist ein Scheitern in einem Bereich und der Segen für etwas anderes, auch wenn es mit der Literatur nicht klappt.
Das Observationsverhör wurde am 5. Mai 2023 geführt.
Das Gespräch führten Elena Endres, Emily Schrön, Jasmin Geppert, Samira Mamisch, Yuwei Liu, Max Lieber und Silke Plösch.
Den nächsten Teil lesen Sie am 1. September hier im Journal unter Writing under Observation.