Essay zum ersten Produktionstagebuch
Das Projekt hieß Writing under Observation; eingeladen in die Klausur der Schwabenakademie Irsee war als Landgastschreiber der Autor Roman Ehrlich. Roman Ehrlich verbrachte von April bis Mai 2021 mehrere Wochen in Irsee. Eine in diesem Rahmen organisierte Lesung im Schloss Edelstetten kann hier als Video besichtigt werden.
Begleitet wurde Ehrlichs Aufenthalt von einem literaturwissenschaftlich-ethnologischen Seminar (LMU München und Universität Augsburg), in dem Roman Ehrlich in der Seminarsitzung wöchentlich Rede und Antwort stand. Zusätzlich führten die Teilnehmenden insgesamt fünf Observationsverhöre, die viele Themen umfassten, sich auf einzelne Seminarsitzungen bezogen und auf die sogenannten Produktionstagebücher, die Ehrlich einmal in der Woche auf seinem Blog postete. Wir dokumentieren hier die Texte, die im Rahmen von Writing under Observation entstanden sind.
*
Ein Observationstagebuch, das den Aufenthalt und den Arbeitsprozess in Irsee dokumentieren soll – oder doch ein Blogpost, die Sonderausgabe eines Mitteilungsblatts, eine Eilmeldung, ein Roman: Bereits am Anfang der Zusammenarbeit, am Anfang des ersten Textes deutet sich an, dass Roman Ehrlich keinerlei Absichten verfolgt, etwaige Rezeptionsgewohnheiten zu bedienen, etwaige Erwartungshaltungen an spezifische Formate zu erfüllen. Wie so oft spielt er mit den vermeintlichen Grenzen von Medienformen, bricht sie auf, vermischt sie, stellt ihre traditionellen Ausprägungen in Frage.
So beginnt sein Tagebuch mit einem ersten Kapitel: „Der Landgastschreiber trifft ein, mit verrücktem Gepäck […], lädt ab, geht einen Gang durchs Dorf, schläft und fährt gleich weiter im gemieteten Auto, zu B in den Schwarzwald, auf die Beerdigung.“[1] Ehrlich verweigert das „Ich“, nimmt stattdessen den Blickwinkel eines personalen Erzählers ein. Hier zeigt sich ebenso, dass sich sein spielerischer Umgang, sein distanzierendes Hinterfragen nicht allein auf das Medium beschränkt, sondern ebenso wenig Halt vor seiner realen Situation, vor der ihm zugedachten Position in Irsee macht; in dieser „Autofiktion“[2] betitelt er sich selbst – irgendwo zwischen Rollen-Personifikation und Pars pro Toto – als „der Landgastschreiber“[3], später abgekürzt als „LGS“[4].
Diesbezüglich lässt sich auch noch einmal auf den Begriff „Mitteilungsblatt“[5] verweisen, der in der Eröffnung fällt, im Stil einer Eilmeldung, einer Nachrichten-Einblendung gehalten. In der ersten Zeile eines digitalen Blogposts wirkt er befremdlich, in der Zeit der Anglizismen und des Newsletters geradezu anachronistisch, aus der Zeit gefallen – und vielleicht wie die gespiegelte Sorge eines Autors aus der Großstadt, der experimentell aufs Dorf geschickt wird, um dort, an einem Ort, an dem „der Konflikt zwischen Alten und Neuen [herrscht]“[6], zu schreiben und zu erfahren. Unter Beobachtung.
Zugleich lenkt Ehrlichs Wortwahl den Blick auf ein zweites, ein paralleles Paradoxon: auf das Mit- und Gegeneinander von Privatsphäre und Öffentlichkeit in einem (öffentlich zugänglichen) „Tagebuch“. Das Tagebuch, traditionell imaginiert als die zu Papier gebrachte, verborgene Wahrheit über das Selbst, als das Mittel zur Bewahrung der persönlichen Integrität im scharfen Kontrast zu den sozialen Performances im Alltag, in zwischenmenschlichen Beziehungen, in gesellschaftlichen Räumen – und doch schon immer, und nicht selten, eine Ausstellung des Selbst, der eigenen Sinnzuschreibung und Bedeutungsproduktion für andere.[7] Ein Widerspruch, der sich auch losgelöst von einer „Autorenobservation“ in unzähligen Ausprägungen beobachten lässt, von den reichlich vorhandenen Journalveröffentlichungen der Männer des Viktorianischen Zeitalters[8] bis hin zu den Blogs und Vlogs der modernen Influencer*innen.
Das Ausleben und die Darstellung, oftmals erst die Suche nach der eigenen Identität, vergraben unter polymorphen Masken und Rollen: trotz der mit der Position des Landgastschreibers und der Textform verbundenen Aktualität handelt es sich hierbei auch insgesamt um ein Thema, das Roman Ehrlich am Herzen zu liegen, das ihn nicht loszulassen scheint. Verlässlich taucht es immer wieder in seinen Texten auf; so beispielsweise bei Moritz in den Fürchterlichen Tagen des schrecklichen Grauens: Dieser scheitert nicht nur laufend an den ihm zugetragenen Rollen, sondern muss zu der Erkenntnis kommen, dass er innerlich wohl einfach leer ist. Die Ausgestiegenen in Malé hingegen versuchen (unter anderem) im Drogenkonsum ihre innere Wahrheit zu finden, sind im Ausleben dieser aber ebenso zum Untergang geweiht wie der Ort, die Projektionsfläche ihrer Fantasien selbst.
Meist sind diese Identitätssuchen und Selbstverwirklichungsversuche verbunden mit einer Flucht aus dem Gewohnten, einem letztendlich zum Scheitern verurteilten Ausbruch aus dem Alltag – denn vielleicht möchte „[n]iemand […] tatsächlich aus dem eigenen Leben mit einem Katapult herausgeschossen werden“[9].
Beide Ansätze scheinen sich auch in der aktuellen Arbeit von Ehrlich wiederzufinden, die er in einem kurzen Absatz auf der zweiten Seite des Tagebucheintrags andeutet; dort wird es wohl um den Lottogewinn einer Familie Connor gehen und die „vermeintliche Einsicht“ darin, dass Geld niemals „die Liebe zueinander und die Fähigkeit [der einfachen Leute], klar und wahr und unverstellt sie selbst zu sein und so auch zu sprechen“[10], aufwiegen könne.
Überraschenderweise zeigt also bereits der erste kurze Text im Rahmen dieses Projekts, wie ausgeprägt Ehrlichs Handschrift als Autor ist, wie deutlich sie sich formal und thematisch auch außerhalb der Romane erkennen lässt. Und wie sehr ihn jene Fragen nun selbst betreffen, in diesem für die Nachwelt eingefrorenen Augenblick: den vormals in Berlin wohnhaften Autor Roman Ehrlich, nunmehr „der Landgastschreiber“ im fremden Irsee.
[1] Roman Ehrlich: Irsee City Ghosts & Blogposts (Produktionstagebuch 1), S. 1.
[2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Ebd., S. 3.
[7] Vgl. Stephen Garton: „The scales of suffering: love, death and Victorian masculinity.“ In: Social History. Jg. 27, Ausg. 1 (2002), S. 40-58, hier S. 44f.
[8] Vgl. ebd.
[9] Produktionstagebuch 1, S. 2 bzw. Roman Ehrlich: „Dinge, die sich im Rahmen meiner temporären Anstellung bei der Grinello Clean Solutions ereigneten“. In: Roman Ehrlich: Urwaldgäste. Erzählungen. Köln: DuMont, 2014, S. 7-39, hier S. 30.
[10] Produktionstagebuch 1, S. 2.
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Das Projekt hieß Writing under Observation; eingeladen in die Klausur der Schwabenakademie Irsee war als Landgastschreiber der Autor Roman Ehrlich. Roman Ehrlich verbrachte von April bis Mai 2021 mehrere Wochen in Irsee. Eine in diesem Rahmen organisierte Lesung im Schloss Edelstetten kann hier als Video besichtigt werden.
Begleitet wurde Ehrlichs Aufenthalt von einem literaturwissenschaftlich-ethnologischen Seminar (LMU München und Universität Augsburg), in dem Roman Ehrlich in der Seminarsitzung wöchentlich Rede und Antwort stand. Zusätzlich führten die Teilnehmenden insgesamt fünf Observationsverhöre, die viele Themen umfassten, sich auf einzelne Seminarsitzungen bezogen und auf die sogenannten Produktionstagebücher, die Ehrlich einmal in der Woche auf seinem Blog postete. Wir dokumentieren hier die Texte, die im Rahmen von Writing under Observation entstanden sind.
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Ein Observationstagebuch, das den Aufenthalt und den Arbeitsprozess in Irsee dokumentieren soll – oder doch ein Blogpost, die Sonderausgabe eines Mitteilungsblatts, eine Eilmeldung, ein Roman: Bereits am Anfang der Zusammenarbeit, am Anfang des ersten Textes deutet sich an, dass Roman Ehrlich keinerlei Absichten verfolgt, etwaige Rezeptionsgewohnheiten zu bedienen, etwaige Erwartungshaltungen an spezifische Formate zu erfüllen. Wie so oft spielt er mit den vermeintlichen Grenzen von Medienformen, bricht sie auf, vermischt sie, stellt ihre traditionellen Ausprägungen in Frage.
So beginnt sein Tagebuch mit einem ersten Kapitel: „Der Landgastschreiber trifft ein, mit verrücktem Gepäck […], lädt ab, geht einen Gang durchs Dorf, schläft und fährt gleich weiter im gemieteten Auto, zu B in den Schwarzwald, auf die Beerdigung.“[1] Ehrlich verweigert das „Ich“, nimmt stattdessen den Blickwinkel eines personalen Erzählers ein. Hier zeigt sich ebenso, dass sich sein spielerischer Umgang, sein distanzierendes Hinterfragen nicht allein auf das Medium beschränkt, sondern ebenso wenig Halt vor seiner realen Situation, vor der ihm zugedachten Position in Irsee macht; in dieser „Autofiktion“[2] betitelt er sich selbst – irgendwo zwischen Rollen-Personifikation und Pars pro Toto – als „der Landgastschreiber“[3], später abgekürzt als „LGS“[4].
Diesbezüglich lässt sich auch noch einmal auf den Begriff „Mitteilungsblatt“[5] verweisen, der in der Eröffnung fällt, im Stil einer Eilmeldung, einer Nachrichten-Einblendung gehalten. In der ersten Zeile eines digitalen Blogposts wirkt er befremdlich, in der Zeit der Anglizismen und des Newsletters geradezu anachronistisch, aus der Zeit gefallen – und vielleicht wie die gespiegelte Sorge eines Autors aus der Großstadt, der experimentell aufs Dorf geschickt wird, um dort, an einem Ort, an dem „der Konflikt zwischen Alten und Neuen [herrscht]“[6], zu schreiben und zu erfahren. Unter Beobachtung.
Zugleich lenkt Ehrlichs Wortwahl den Blick auf ein zweites, ein paralleles Paradoxon: auf das Mit- und Gegeneinander von Privatsphäre und Öffentlichkeit in einem (öffentlich zugänglichen) „Tagebuch“. Das Tagebuch, traditionell imaginiert als die zu Papier gebrachte, verborgene Wahrheit über das Selbst, als das Mittel zur Bewahrung der persönlichen Integrität im scharfen Kontrast zu den sozialen Performances im Alltag, in zwischenmenschlichen Beziehungen, in gesellschaftlichen Räumen – und doch schon immer, und nicht selten, eine Ausstellung des Selbst, der eigenen Sinnzuschreibung und Bedeutungsproduktion für andere.[7] Ein Widerspruch, der sich auch losgelöst von einer „Autorenobservation“ in unzähligen Ausprägungen beobachten lässt, von den reichlich vorhandenen Journalveröffentlichungen der Männer des Viktorianischen Zeitalters[8] bis hin zu den Blogs und Vlogs der modernen Influencer*innen.
Das Ausleben und die Darstellung, oftmals erst die Suche nach der eigenen Identität, vergraben unter polymorphen Masken und Rollen: trotz der mit der Position des Landgastschreibers und der Textform verbundenen Aktualität handelt es sich hierbei auch insgesamt um ein Thema, das Roman Ehrlich am Herzen zu liegen, das ihn nicht loszulassen scheint. Verlässlich taucht es immer wieder in seinen Texten auf; so beispielsweise bei Moritz in den Fürchterlichen Tagen des schrecklichen Grauens: Dieser scheitert nicht nur laufend an den ihm zugetragenen Rollen, sondern muss zu der Erkenntnis kommen, dass er innerlich wohl einfach leer ist. Die Ausgestiegenen in Malé hingegen versuchen (unter anderem) im Drogenkonsum ihre innere Wahrheit zu finden, sind im Ausleben dieser aber ebenso zum Untergang geweiht wie der Ort, die Projektionsfläche ihrer Fantasien selbst.
Meist sind diese Identitätssuchen und Selbstverwirklichungsversuche verbunden mit einer Flucht aus dem Gewohnten, einem letztendlich zum Scheitern verurteilten Ausbruch aus dem Alltag – denn vielleicht möchte „[n]iemand […] tatsächlich aus dem eigenen Leben mit einem Katapult herausgeschossen werden“[9].
Beide Ansätze scheinen sich auch in der aktuellen Arbeit von Ehrlich wiederzufinden, die er in einem kurzen Absatz auf der zweiten Seite des Tagebucheintrags andeutet; dort wird es wohl um den Lottogewinn einer Familie Connor gehen und die „vermeintliche Einsicht“ darin, dass Geld niemals „die Liebe zueinander und die Fähigkeit [der einfachen Leute], klar und wahr und unverstellt sie selbst zu sein und so auch zu sprechen“[10], aufwiegen könne.
Überraschenderweise zeigt also bereits der erste kurze Text im Rahmen dieses Projekts, wie ausgeprägt Ehrlichs Handschrift als Autor ist, wie deutlich sie sich formal und thematisch auch außerhalb der Romane erkennen lässt. Und wie sehr ihn jene Fragen nun selbst betreffen, in diesem für die Nachwelt eingefrorenen Augenblick: den vormals in Berlin wohnhaften Autor Roman Ehrlich, nunmehr „der Landgastschreiber“ im fremden Irsee.
[1] Roman Ehrlich: Irsee City Ghosts & Blogposts (Produktionstagebuch 1), S. 1.
[2] Ebd.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Ebd., S. 3.
[7] Vgl. Stephen Garton: „The scales of suffering: love, death and Victorian masculinity.“ In: Social History. Jg. 27, Ausg. 1 (2002), S. 40-58, hier S. 44f.
[8] Vgl. ebd.
[9] Produktionstagebuch 1, S. 2 bzw. Roman Ehrlich: „Dinge, die sich im Rahmen meiner temporären Anstellung bei der Grinello Clean Solutions ereigneten“. In: Roman Ehrlich: Urwaldgäste. Erzählungen. Köln: DuMont, 2014, S. 7-39, hier S. 30.
[10] Produktionstagebuch 1, S. 2.