Der Landgastschreiber: Ein Konstrukt zur Dekonstruktion

Das Schreiben beginnt überhaupt nicht am Tisch; es hat immer irgendwo schon begonnen und es hört, das ist kein Vergnügen, nirgendwo auf.
– Ror Wolf –

 

Der Autor Roman Ehrlich ist einer Einladung der Schwabenakademie gefolgt, als Writer in Residence nach Irsee zu kommen. Dort wird er für kurze Zeit zum Landgastschreiber (LGS). Von April bis Mai 2021 führte er einen Literaturblog, an der die interessierte Öffentlichkeit an seinem Leben und Schreiben teilhaben konnte. Parallel dazu beobachtet ein Seminar, das in Kooperation der LMU München und der Universität Augsburg online und in Blockveranstaltungen stattfand, den Autor. In gemeinschaftlichen Fragerunden nach abgehaltenem Seminar oder in sogenannten Observationsverhören – ein Online-Interview via Zoom – bekommen die Studierenden die Möglichkeit, den Autor zu seinen Werken und dem Projekt zu befragen. Im Mittelpunkt des Seminars stand Ehrlichs 2020 erschienener Roman Malé sowie das auf der Website landgastschreiber.de veröffentlichte Online-Tagebuch.

In einem ersten Beitrag führt er die Figur des Landgastschreibers ein und berichtet von seinem Vorhaben, sein momentanes Manuskript, das von einer Familie Conner und einem Lottogewinn handelt, weiter zu bearbeiten. Was ist denn aber nun eigentlich ein Landgastschreiber? Der Landgastschreiber ist ein Konstrukt, das dem Ziel der Dekonstruktion verschrieben ist. Als Gast in Irsee nimmt der Autor Roman Ehrlich die Persona des LGS an, um das Dorf, dessen Bewohner und Bewohnerinnen, die Natur und die Gesellschaft als Gefüge zu beobachten und anschließend darüber zu schreiben. Nun ist es aus datenschutzrechtlichen Gründen, der Privatsphäre sowie der redefreudigen Dorfkultur nicht einfach, das Erlebte und Beobachtete in einen Text zu verarbeiten. Was macht also Ehrlich? Er dekonstruiert.

Bei der Dekonstruktion im klassischen Sinne handelt es sich um ein sogenanntes ‚endloses Spiel‘ mit Zeichen, dies bedeutet, dass man Zeichen in unterschiedlichen Kontexten deutet, sie ‚auseinandernimmt‘ und anschließend neu zusammensetzt. Damit verfolgt der Dekonstruktivist eine ‚unendliche Spur‘, bei der versucht wird, die Bedeutungsgrenzen auszuloten. Jedoch gilt es als unmöglich, unvoreingenommen an eine Sache heranzugehen, von verschiedenen Vorannahmen seitens des Autors oder der Autorin wird ausgegangen. Diese gelten als metaphysisch und basieren nicht auf natürlichen Fakten, als Folge arbeiten Autoren und Autorinnen oftmals mit verdrängtem Potenzial.[1] Das Konstrukt des LGS dient Ehrlich bei diesem Projekt als ein Mittel, diese Vorurteile zu verringern, er kann das Dorf und seine Geschichten aus einem anderen Blickwinkel beschreiben, er wird zu einem Protokollanten dessen, was er während seines Aufenthaltes beobachtet.

Als dieser fällt dem LGS auf, dass die Bewohner und Bewohnerinnen eine Trennung zwischen Alt und Neu durchführen, den Menschen ist es wichtig, zu betonen, wie lange sie schon in Irsee wohnen. Aus dem Tagebuch des LGS erfahren wir außerdem folgendes:

Der Landgastschreiber ist nur vorübergehend da. Er tut, was das mittlere Substantiv seiner Positionsbezeichnung suggeriert: er hört und schaut anderen dabei zu, wie ihre Haltungen und Standpunkte beziehen und ihre Rollen bekleiden – jeweils aus der relativen Sicherheit heraus, zu wissen wer sie wo wann und warum sind und in welchem Verhältnis sie zu den Geboten und Gesetzen stehen, die an ihren Standorten gelten.

Genau dies ist wohl das Ausloten von Bedeutungsgrenzen, Ehrlich muss sich selbst die Frage stellen, was es heißt, die Menschen in Irsee zu beobachten und in welcher Form darüber geschrieben werden kann, ohne das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wurde, zu missbrauchen. Er konstruiert den Landgastschreiber, das bedeutet, er bedient sich dieser Erzählform als Konstrukt, um Vorannahmen zu minimieren und die Vertraulichkeit des Erzählten zu bewahren. Als Landgastschreiber kann er die Informationen, die er bekommt, neu formen und zusammensetzen, und zwar in dem für Ehrlich üblichen, unabgeschlossenen, eher abstrakten Stil. Er kann Fakten und Erzähltes ohne Namensnennung oder direkten Bezug verwenden und in einen völlig neuen Kontext setzen, dem Erlebten einen anderen Rahmen geben. Der durch das Projekt konstruierte LGS bietet Ehrlich (einerseits) die Möglichkeit, den Leuten als Autor nah und greifbar zu sein, indem er z. B. eine Schicht in der örtlichen Bücherei übernimmt, (andererseits) aber sein literarisches Schaffen durch eine Sci-Fi-Erzählung im Weltraum oder auf dem Meer in Tagebuchform davon ab(zu)grenz(en).

In mehreren Beiträgen wechseln sich stream-of-conciousness-artige Passagen mit englischen Zitaten als Einschübe(n) und Erzählungen aus der 3. Person – der des LGS – miteinander ab. Auffällig ist, dass jeder Eintrag ‚Kapitel 1‘ zu sein scheint. Ein Von-vorne-anfangen also, ein Ausprobieren einer Erzählform, die Fakten mit Fiktion verschmilzt, ohne den jeweiligen Ursprung der Informationen verraten zu wollen.

Der LGS fragt sich in einem dieser Beiträge außerdem,

ob die Träume, die sie an ihren Standorten träumen, mitunter falsche Träume sein können, die sie so sehr verwirren, dass sie nicht eher bestimmen können, wer sie wo sind und welche Welt hinter dem Nebel zum Vorschein kommen muss, wenn er sich legt […], [und] ob ein Schreiben unter Beobachtung vom Leben handeln kann.

In seinen Aufzeichnungen vermischen sich Wetterbericht und eine Begegnung mit dem Schriftsteller Vladimir Nabokov, er trifft W. G. Sebald und sieht sich eine „hoffnungslose Partie Tischtennis gegen einen hochroutinierten Öler spielen“, während er sich auf einem vom Sturm gebeutelten Schiff wiederfindet. Das Tagebuch, das Roman Ehrlich während seiner Zeit in Irsee verfasst, kann genau als Dekonstruktion des tristen Dorfalltags und schlechten Wetters gelesen werden, gepaart mit der Fantasie eines Schriftstellers, der ein ‚endloses Spiel‘ betreibt, die Zeichen in unterschiedlichen Kontexten neu anordnet. Aus ihnen ergibt sich dann eine neue Bedeutung, eine neue Geschichte, die im Kontext des LGS für sich selbst steht. Das Tagebuch eignet sich hervorragend für eine exemplarische dekonstruktivistische Analyse. Metaphorisch für diese Praxis wird zudem auch ein Anagramm-Mashup, in dem der LGS alle auffordert, neue Sätze aus Scrabble-Buchstaben zu bilden. Innerhalb dieser von ihm selbst gewählten Metapher muss sich der LGS wiederum der Sprache bedienen, eine Neustrukturierung dieser muss allerdings scheitern, da diese der Metaphysik der Präsenz unterliegt. Insgesamt liegt den Leser*innen nach der Lektüre des finalen Tagebuchs, das aus der Residenz Roman Ehrlichs und aus der Feder des LGS‘ hervorgeht, ein Text vor, der eben gerade als Gewebe eines solchen interessant ist und durch Dekonstruktion an Inhalt und Deutungsweisen gewinnt.

 

[1] Vgl. Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen.

Sekundärliteratur:

Derrida, Jacques (2000): Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: Fotis Jannidis et al. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Reclam, Stuttgart, S. 185-193.

Externe Links:

Landgastschreiber: Roman Ehrlich in Irsee