Produktionstagebücher (2): writing und. ob.
Das Projekt hieß Writing under Observation; eingeladen in die Klausur der Schwabenakademie Irsee war als Landgastschreiber der Autor Roman Ehrlich. Roman Ehrlich verbrachte von April bis Mai 2021 mehrere Wochen in Irsee. Eine in diesem Rahmen organisierte Lesung im Schloss Edelstetten kann hier als Video besichtigt werden.
Begleitet wurde Ehrlichs Aufenthalt von einem literaturwissenschaftlich-ethnologischen Seminar (LMU München und Universität Augsburg), in dem Roman Ehrlich in der Seminarsitzung wöchentlich Rede und Antwort stand. Zusätzlich führten die Teilnehmenden insgesamt fünf Observationsverhöre, die viele Themen umfassten, sich auf einzelne Seminarsitzungen bezogen und auf die sogenannten Produktionstagebücher, die Ehrlich einmal in der Woche auf seinem Blog postete. Wir dokumentieren hier die Texte, die im Rahmen von Writing under Observation entstanden sind.
*
+++ Mitteilungsblatt, Spezial +++ Die Identitäten sind weg! +++ Was bleibt übrig? +++ „Begehren, Interessen und Identifikationen“ +++
Pandemiemüde, ausgezehrt, hungrig nach sozialer Interaktion, ziehen die Kunstschaffenden aus den Städten aus, übers Land und auf die Dörfer, auf der Suche nach Geschichten echter Menschen, non-virtueller Kommunikation, den Aerosolen des Erzählens. Aber was wollt ihr denn hier, sagen die Dörfer, auch unsere Gaststätten sind geschlossen, unsere Biere müssen ebenfalls zuhause getrunken werden, auch wir canceln jetzt online und nicht mehr am Gartenzaun. Die Luft ist hier noch immer etwas frischer, man möge sie atmen, ohne ein großes Theater darum zu machen. Die Alpen glühen am Horizont, morgens schimmern die Dächer mattweiß vom Frost der Nacht. Wir treiben unsere Säue nicht mehr durchs Dorf, ihr braucht also gar nicht so erwartungsvoll am Straßenrand herumstehen.
So kratzt man also aus den leeren Töpfen noch das Angebrannte heraus und wird dabei von verschiedenen Instanzen wissenschaftlich begleitet und beobachtet.
Na klar, lieber Ken, Sometimes a Great Notion, aber more often times a great Erschlaffung.
KAPITEL EINS – Statik und Ausblick
Sitzen am Schreibtisch im oberen Stockwerk, Blick über den Hang, Forstanger, Marktstraße. Am Hügel gegenüber windet sich der Sunset Boulevard durch den gleißenden Dunst des Morgens. Der weiße Kuppelbau des Tempels der Self-Realisation-Fellowship, in dem jede Messe mit der dreifachen Schlussformel Om, Peace, Amen beendet wird, ragt klar erkennbar aus der lichthellen Unschärfe heraus. Nach Westen hin der Garten mit den Feigen- und Zitronenbäumen, dem alten faserigen Eukalyptus, dann steil abfallend zur Küste ein paar Dächer und die unbewegten Kronen schlanker Washingtonia robusta.
In Lions Zimmer steht der Schreibtisch am Fenster und ist der Pazifik eine riesenhafte Einladung schauend in ihm das Gefühl für die Zeit, alle Gedanken, alle Vorhaben und Ambitionen zu verlieren. Das Wetter, das landwärts aufzieht, ist am Fensterplatz von weit her schon zu erkennen. Der fabelhafte Regen, der später alle nach draußen vor die Häuser treiben wird, die Köpfe im Nacken und die geöffneten Handflächen himmelwärts gerichtet. Von unten, aus dem Salon, hört der Landgastschreiber den greisen H auf der historischen Kinoorgel der Feuchtwangers seine melancholischen Etüden spielen. Unschätzbar alt, mit tief zerfurchtem Gesicht und leuchtend weißem Crew-Cut, in sehr gerader Haltung, sitzt H in dem kleinen Organisten-Séparée hinter dem Eisentürchen auf der Holzbank und tänzelt mit seinen eleganten Lederschuhen über die Pedale der tiefen Tonlagen. Der alte Mann lebt sehr viel länger als irgendwer sonst im Haus am Hang, in dessen kleinstem Zimmer, das auf dem kleinen Plastikschildchen am Zimmerschlüssel als Schrank mit Aussicht ausgewiesen ist. Der alte H wird von den Jüngeren als „gute Seele“ des Hauses bezeichnet, was dem LGS fast schon respektlos vorkommt, eine Art Entmündigungsbeschluss: deine Präsenz ist uns geisterhaft.
Die den Landgastschreiber vor allen anderen gruselnden Kreaturen sind dabei vielmehr die Riesensilberfischchen, die in die Feuchtwangersche Bibliothek eingezogen sind und dort in die Bücher kriechen, um sie langsam von innen heraus zu verspeisen. Der alte Stoff, auf dem sich das Denken konserviert, ist ihnen nahrhaft.
Die eigentlichen Geister im Haus am Hang sind die von Verfolgung, Flucht und Vertreibung, vom unermüdlichen Wiederaufbau des eigenen Lebens anderswo, von der Feindseligkeit gegen freies Wort und freies Denken. Die Geflüchteten treffen sich und diskutieren über die Lage ihrer Herkunftswelten, die in Finsternis versunken oder schon völlig ausgelöscht sind. Beim Blick durch das Feuchtwangerfenster am Hang über den unendlich weiten Pazifik, der selbst zeitlos ist und auf dem jede Spur menschlicher Bewegung nach wenigen Sekunden verschwindet, kommt dem LGS die Filmaufnahme eines alliierten Aufklärungsfluges über die Ruinen der Stadt Berlin, wenige Tage nach Kriegsende, in den Sinn. Und die Stimme eines ranghohen Militärs, der sagt, er wolle sich dafür einsetzen, dass all das nicht wieder aufgebaut wird, sondern als begehbares Mahnmal genau so belassen wie es ist. Euer Faschismus war euer Verderben, nicht euer Wirtschaftswundermotor, sollte das Mahnmal sagen.
Beim Gehen an der Bundesstraße 16 stadtauswärts, Richtung Pacific Coast Highway, entlang der letzten Stadtrandsiedlungen des nördlichen Kaufbeuren, den Nachkriegsreihenhäusern und Garagenbauten in unterschiedlichen Graden der Renoviertheit, erinnert sich der LGS, dass er sich in seiner Herkunfts-Kleinstadt in solchen Nachkriegsreihenhaussiedlungen immer an den kleinsten Indizien von Geschichtlichkeit festgestarrt hatte: aufgeplatzter Putz, Rost an den Garagentoren, Risse und Lücken, aus denen etwas hervorwuchs oder in denen eine besondere Art der Finsternis war. Und dass dieses Feststarren ein sehnsuchtsvolles war, das sich wünschte, dass in den Dingen, die einen umgeben, noch mehr ist als das offensichtlich Gegenwärtige. Geschichte. Das Vergehen der Zeit und seine Spuren (Benjamin Sauters Fleißnarbe aus den Ingenieuren der Zeit). Oder dass es mit dem, was da fraglos war, eine absichtsvolle Auseinandersetzung geben könnte.
Die beiden Klosterkirchentürme Peter und Paul werden als erste hinter der letzten Kuppe sichtbar, als sich der LGS von Kaufbeuren her über die staubigen Pfade und durchs vertrocknete Gestrüpp des Topanga-State-Parks hochmüht Richtung Haus am Hang. Und sofort ist auch die Kälte spürbar, die vom Klostergelände und seinen Anstaltsbauten ausgeht. Das Schwarze der Geschichte, das durch keinen Renovierungsaufwand übermalt werden kann, durch keinen wahnsinnigen Verdrängungsaufwand unterdrückt.
Man logiert da jetzt. Aber mal ehrlich, sensibler Temperaturfühler, es hätte ja die gesamte Republik abgerissen werden müssen, wenn man nicht glauben dürfte, dass man die Orte nochmal neu bzw. wieder alt benutzen und bewohnen kann.
Produktionstagebücher (2): writing und. ob.>
Das Projekt hieß Writing under Observation; eingeladen in die Klausur der Schwabenakademie Irsee war als Landgastschreiber der Autor Roman Ehrlich. Roman Ehrlich verbrachte von April bis Mai 2021 mehrere Wochen in Irsee. Eine in diesem Rahmen organisierte Lesung im Schloss Edelstetten kann hier als Video besichtigt werden.
Begleitet wurde Ehrlichs Aufenthalt von einem literaturwissenschaftlich-ethnologischen Seminar (LMU München und Universität Augsburg), in dem Roman Ehrlich in der Seminarsitzung wöchentlich Rede und Antwort stand. Zusätzlich führten die Teilnehmenden insgesamt fünf Observationsverhöre, die viele Themen umfassten, sich auf einzelne Seminarsitzungen bezogen und auf die sogenannten Produktionstagebücher, die Ehrlich einmal in der Woche auf seinem Blog postete. Wir dokumentieren hier die Texte, die im Rahmen von Writing under Observation entstanden sind.
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+++ Mitteilungsblatt, Spezial +++ Die Identitäten sind weg! +++ Was bleibt übrig? +++ „Begehren, Interessen und Identifikationen“ +++
Pandemiemüde, ausgezehrt, hungrig nach sozialer Interaktion, ziehen die Kunstschaffenden aus den Städten aus, übers Land und auf die Dörfer, auf der Suche nach Geschichten echter Menschen, non-virtueller Kommunikation, den Aerosolen des Erzählens. Aber was wollt ihr denn hier, sagen die Dörfer, auch unsere Gaststätten sind geschlossen, unsere Biere müssen ebenfalls zuhause getrunken werden, auch wir canceln jetzt online und nicht mehr am Gartenzaun. Die Luft ist hier noch immer etwas frischer, man möge sie atmen, ohne ein großes Theater darum zu machen. Die Alpen glühen am Horizont, morgens schimmern die Dächer mattweiß vom Frost der Nacht. Wir treiben unsere Säue nicht mehr durchs Dorf, ihr braucht also gar nicht so erwartungsvoll am Straßenrand herumstehen.
So kratzt man also aus den leeren Töpfen noch das Angebrannte heraus und wird dabei von verschiedenen Instanzen wissenschaftlich begleitet und beobachtet.
Na klar, lieber Ken, Sometimes a Great Notion, aber more often times a great Erschlaffung.
KAPITEL EINS – Statik und Ausblick
Sitzen am Schreibtisch im oberen Stockwerk, Blick über den Hang, Forstanger, Marktstraße. Am Hügel gegenüber windet sich der Sunset Boulevard durch den gleißenden Dunst des Morgens. Der weiße Kuppelbau des Tempels der Self-Realisation-Fellowship, in dem jede Messe mit der dreifachen Schlussformel Om, Peace, Amen beendet wird, ragt klar erkennbar aus der lichthellen Unschärfe heraus. Nach Westen hin der Garten mit den Feigen- und Zitronenbäumen, dem alten faserigen Eukalyptus, dann steil abfallend zur Küste ein paar Dächer und die unbewegten Kronen schlanker Washingtonia robusta.
In Lions Zimmer steht der Schreibtisch am Fenster und ist der Pazifik eine riesenhafte Einladung schauend in ihm das Gefühl für die Zeit, alle Gedanken, alle Vorhaben und Ambitionen zu verlieren. Das Wetter, das landwärts aufzieht, ist am Fensterplatz von weit her schon zu erkennen. Der fabelhafte Regen, der später alle nach draußen vor die Häuser treiben wird, die Köpfe im Nacken und die geöffneten Handflächen himmelwärts gerichtet. Von unten, aus dem Salon, hört der Landgastschreiber den greisen H auf der historischen Kinoorgel der Feuchtwangers seine melancholischen Etüden spielen. Unschätzbar alt, mit tief zerfurchtem Gesicht und leuchtend weißem Crew-Cut, in sehr gerader Haltung, sitzt H in dem kleinen Organisten-Séparée hinter dem Eisentürchen auf der Holzbank und tänzelt mit seinen eleganten Lederschuhen über die Pedale der tiefen Tonlagen. Der alte Mann lebt sehr viel länger als irgendwer sonst im Haus am Hang, in dessen kleinstem Zimmer, das auf dem kleinen Plastikschildchen am Zimmerschlüssel als Schrank mit Aussicht ausgewiesen ist. Der alte H wird von den Jüngeren als „gute Seele“ des Hauses bezeichnet, was dem LGS fast schon respektlos vorkommt, eine Art Entmündigungsbeschluss: deine Präsenz ist uns geisterhaft.
Die den Landgastschreiber vor allen anderen gruselnden Kreaturen sind dabei vielmehr die Riesensilberfischchen, die in die Feuchtwangersche Bibliothek eingezogen sind und dort in die Bücher kriechen, um sie langsam von innen heraus zu verspeisen. Der alte Stoff, auf dem sich das Denken konserviert, ist ihnen nahrhaft.
Die eigentlichen Geister im Haus am Hang sind die von Verfolgung, Flucht und Vertreibung, vom unermüdlichen Wiederaufbau des eigenen Lebens anderswo, von der Feindseligkeit gegen freies Wort und freies Denken. Die Geflüchteten treffen sich und diskutieren über die Lage ihrer Herkunftswelten, die in Finsternis versunken oder schon völlig ausgelöscht sind. Beim Blick durch das Feuchtwangerfenster am Hang über den unendlich weiten Pazifik, der selbst zeitlos ist und auf dem jede Spur menschlicher Bewegung nach wenigen Sekunden verschwindet, kommt dem LGS die Filmaufnahme eines alliierten Aufklärungsfluges über die Ruinen der Stadt Berlin, wenige Tage nach Kriegsende, in den Sinn. Und die Stimme eines ranghohen Militärs, der sagt, er wolle sich dafür einsetzen, dass all das nicht wieder aufgebaut wird, sondern als begehbares Mahnmal genau so belassen wie es ist. Euer Faschismus war euer Verderben, nicht euer Wirtschaftswundermotor, sollte das Mahnmal sagen.
Beim Gehen an der Bundesstraße 16 stadtauswärts, Richtung Pacific Coast Highway, entlang der letzten Stadtrandsiedlungen des nördlichen Kaufbeuren, den Nachkriegsreihenhäusern und Garagenbauten in unterschiedlichen Graden der Renoviertheit, erinnert sich der LGS, dass er sich in seiner Herkunfts-Kleinstadt in solchen Nachkriegsreihenhaussiedlungen immer an den kleinsten Indizien von Geschichtlichkeit festgestarrt hatte: aufgeplatzter Putz, Rost an den Garagentoren, Risse und Lücken, aus denen etwas hervorwuchs oder in denen eine besondere Art der Finsternis war. Und dass dieses Feststarren ein sehnsuchtsvolles war, das sich wünschte, dass in den Dingen, die einen umgeben, noch mehr ist als das offensichtlich Gegenwärtige. Geschichte. Das Vergehen der Zeit und seine Spuren (Benjamin Sauters Fleißnarbe aus den Ingenieuren der Zeit). Oder dass es mit dem, was da fraglos war, eine absichtsvolle Auseinandersetzung geben könnte.
Die beiden Klosterkirchentürme Peter und Paul werden als erste hinter der letzten Kuppe sichtbar, als sich der LGS von Kaufbeuren her über die staubigen Pfade und durchs vertrocknete Gestrüpp des Topanga-State-Parks hochmüht Richtung Haus am Hang. Und sofort ist auch die Kälte spürbar, die vom Klostergelände und seinen Anstaltsbauten ausgeht. Das Schwarze der Geschichte, das durch keinen Renovierungsaufwand übermalt werden kann, durch keinen wahnsinnigen Verdrängungsaufwand unterdrückt.
Man logiert da jetzt. Aber mal ehrlich, sensibler Temperaturfühler, es hätte ja die gesamte Republik abgerissen werden müssen, wenn man nicht glauben dürfte, dass man die Orte nochmal neu bzw. wieder alt benutzen und bewohnen kann.