Produktionstagebücher (1): Irsee City Ghosts & Blogposts
Das Projekt hieß Writing under Observation; eingeladen in die Klausur der Schwabenakademie Irsee war als Landgastschreiber der Autor Roman Ehrlich. Roman Ehrlich verbrachte von April bis Mai 2021 mehrere Wochen in Irsee. Eine in diesem Rahmen organisierte Lesung im Schloss Edelstetten kann hier als Video besichtigt werden.
Begleitet wurde Ehrlichs Aufenthalt von einem literaturwissenschaftlich-ethnologischen Seminar (LMU München und Universität Augsburg), in dem Roman Ehrlich in der Seminarsitzung wöchentlich Rede und Antwort stand. Zusätzlich führten die Teilnehmenden insgesamt fünf Observationsverhöre, die viele Themen umfassten, sich auf einzelne Seminarsitzungen bezogen und auf die sogenannten Produktionstagebücher, die Ehrlich einmal in der Woche auf seinem Blog postete. Wir dokumentieren hier die Texte, die im Rahmen von Writing under Observation entstanden sind.
*
+++ Mitteilungsblatt, Sonderausgabe +++ Eilmeldung +++ Landgastschreiber-Unwesen im Ostallgäu +++ Der große Irsee-Roman! +++ Wer sich nicht rettet, wird verwurstet! +++
Aber was schreiben Sie denn da? Und was soll das heißen, „Autofiktion“? Kleinwagenfahrer träumen von SUVs? Tuning beyond Durchführbarkeit? Visionen umweltfreundlicher Mobilität? Ein Werkstatttagebuch?
Oder eher so Abgasskandal, verschlafene E-Wende, der alte Filz der Industrie?
Nun sagen Sie doch mal!
KAPITEL EINS – Ankunft und Abfahrt
Der Landgastschreiber trifft ein, mit verrücktem Gepäck (lunatic’s luggage?), lädt ab, geht einen Gang durchs Dorf, schläft und fährt gleich weiter im gemieteten Auto, zu B in den Schwarzwald, auf die Beerdigung.
Es schneit und schneit in diesem April, auf der Autobahn überholt der Landgastschreiber ein langsam auf der mittleren Spur fahrendes Auto, als von hinten vollkommen irrsinnig schnell einer angeheizt kommt, bis auf einen Meter ranfährt, Fernlicht, wilde Gesten mit beiden Händen, auch dabei hilft der Spurassistent. Der Landgastschreiber macht den Warnblinker an, weil leider keine Lichthupe nach hinten verbaut ist, beendet seinen Überholvorgang, wird selbst vom Irren überholt, der knapp vor ihm einschert und mehrmals die Scheibenwischanlage betätigt, um den Landgastschreiber damit zu beregnen – fick dich, du Schleicher! – schwenkt dann rechts rüber und quer über zwei Fahrbahnen zurück auf seine Dauerüberholspur.
Der wahnsinnige Stress, den es bedeuten muss, so drauf zu sein. Der LGS erinnert sich an einen seiner eigenen Texte aus den Urwaldgästen (Dinge, die sich im Rahmen meiner temporären Anstellung bei der Grinello Clean Solutions ereigneten), in dem jemand durch ein absichtsvolles Ausbremsen eines Dränglers einen Unfall verursacht, dann auf dem nächsten Autobahnparkplatz einen Wartenden in seinem Auto nach einem Handy fragen will, um die Polizei zu rufen, und der ihm erzählt, er komme gerade von einer Sitzung eines Expertenausschusses zur Optimierung der Betriebsabläufe in einer staatlichen Lotterie. Und dass er kurz vor der Sitzung einen Imagefilm der Lotterie im Internet geschaut habe:
Einmal im Jahr werden die Millionäre aus vergangenen Ziehungen zu sogenannten Millionärstreffen in eine Stadt geladen, wo sie vor laufender Kamera Parfümproben machen oder ein Opernhaus besichtigen, Wein trinken und in teuren Restaurants essen. All diese Lotteriemillionäre waren sehr dick und trugen teuren Schmuck, goldene Armbanduhren und Designerbrillen. Der Imagefilm hat in mir die Überzeugung geweckt, dass es überhaupt keine Millionäre mehr geben sollte. Und das habe ich meinen Kollegen dann auch dargelegt. Heute spielen doch eh nur noch die finanziell schlecht Gestellten unter sich den Aufstieg weniger in eine höhere Gesellschaftsschicht aus. Und ich behaupte: Niemand möchte tatsächlich aus dem eigenen Leben mit einem Katapult herausgeschossen werden.
Der LGS denkt an den Text, an dem er gerade sitzt, der sehr bald schon fällig ist, an die Familie Conner, um die es da geht, ihren Lottogewinn und die vermeintliche Einsicht darin, dass alles Geld der Welt auch nicht ersetzen kann, was die einfachen Leute von unten ohnehin schon als Reichtum besessen haben: die Liebe zueinander und die Fähigkeit, klar und wahr und unverstellt sie selbst zu sein und so auch zu sprechen. All you need is love, lieber Raser, Stressor, Hater, Unzufriedener, Freudloser, sagt John Lennon, der nachher auf der Beerdigung noch nachklingt, als Jacky Terrasson seinen Song singt: „Oh my love for the first time in my life my eyes are wide open… I see the wind, oh, I see the trees, everything is clear in my heart. I see the clouds, oh, I see the sky, everything is clear in our world“ – während der fabelhafte Friedwaldförster auf sehr zärtliche Weise zur Musik die Erde ins Grab schaufelt. Dann wieder zurück über Landstraßen und Autobahnen. Schneeregen, wild fahrende Scheibenwischer, ungeduldige Fernfahrer. Einzug in die Unterkunft am Hang. Auf dem Hügel gegenüber, über Mühlstraße und Via Dolorosa erreichbar, die Grabeskirche, Herr Jesus, vor der der Landgastschreiber einst in der Jerusalemer Altstadt ungläubig gestanden hatte und nicht begreifen konnte, wie so viel Wut und Hass und Feindseligkeit sich auf so wenig Raum an alten Steinen entzünden konnte.
Der LGS hat es schon vernommen: auch hier im Ort herrscht der alte Konflikt zwischen Alten und Neuen. Wer bestimmt die Stimmung? Die zuerst da waren oder die Hinzugekommenen?
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Das Projekt hieß Writing under Observation; eingeladen in die Klausur der Schwabenakademie Irsee war als Landgastschreiber der Autor Roman Ehrlich. Roman Ehrlich verbrachte von April bis Mai 2021 mehrere Wochen in Irsee. Eine in diesem Rahmen organisierte Lesung im Schloss Edelstetten kann hier als Video besichtigt werden.
Begleitet wurde Ehrlichs Aufenthalt von einem literaturwissenschaftlich-ethnologischen Seminar (LMU München und Universität Augsburg), in dem Roman Ehrlich in der Seminarsitzung wöchentlich Rede und Antwort stand. Zusätzlich führten die Teilnehmenden insgesamt fünf Observationsverhöre, die viele Themen umfassten, sich auf einzelne Seminarsitzungen bezogen und auf die sogenannten Produktionstagebücher, die Ehrlich einmal in der Woche auf seinem Blog postete. Wir dokumentieren hier die Texte, die im Rahmen von Writing under Observation entstanden sind.
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+++ Mitteilungsblatt, Sonderausgabe +++ Eilmeldung +++ Landgastschreiber-Unwesen im Ostallgäu +++ Der große Irsee-Roman! +++ Wer sich nicht rettet, wird verwurstet! +++
Aber was schreiben Sie denn da? Und was soll das heißen, „Autofiktion“? Kleinwagenfahrer träumen von SUVs? Tuning beyond Durchführbarkeit? Visionen umweltfreundlicher Mobilität? Ein Werkstatttagebuch?
Oder eher so Abgasskandal, verschlafene E-Wende, der alte Filz der Industrie?
Nun sagen Sie doch mal!
KAPITEL EINS – Ankunft und Abfahrt
Der Landgastschreiber trifft ein, mit verrücktem Gepäck (lunatic’s luggage?), lädt ab, geht einen Gang durchs Dorf, schläft und fährt gleich weiter im gemieteten Auto, zu B in den Schwarzwald, auf die Beerdigung.
Es schneit und schneit in diesem April, auf der Autobahn überholt der Landgastschreiber ein langsam auf der mittleren Spur fahrendes Auto, als von hinten vollkommen irrsinnig schnell einer angeheizt kommt, bis auf einen Meter ranfährt, Fernlicht, wilde Gesten mit beiden Händen, auch dabei hilft der Spurassistent. Der Landgastschreiber macht den Warnblinker an, weil leider keine Lichthupe nach hinten verbaut ist, beendet seinen Überholvorgang, wird selbst vom Irren überholt, der knapp vor ihm einschert und mehrmals die Scheibenwischanlage betätigt, um den Landgastschreiber damit zu beregnen – fick dich, du Schleicher! – schwenkt dann rechts rüber und quer über zwei Fahrbahnen zurück auf seine Dauerüberholspur.
Der wahnsinnige Stress, den es bedeuten muss, so drauf zu sein. Der LGS erinnert sich an einen seiner eigenen Texte aus den Urwaldgästen (Dinge, die sich im Rahmen meiner temporären Anstellung bei der Grinello Clean Solutions ereigneten), in dem jemand durch ein absichtsvolles Ausbremsen eines Dränglers einen Unfall verursacht, dann auf dem nächsten Autobahnparkplatz einen Wartenden in seinem Auto nach einem Handy fragen will, um die Polizei zu rufen, und der ihm erzählt, er komme gerade von einer Sitzung eines Expertenausschusses zur Optimierung der Betriebsabläufe in einer staatlichen Lotterie. Und dass er kurz vor der Sitzung einen Imagefilm der Lotterie im Internet geschaut habe:
Einmal im Jahr werden die Millionäre aus vergangenen Ziehungen zu sogenannten Millionärstreffen in eine Stadt geladen, wo sie vor laufender Kamera Parfümproben machen oder ein Opernhaus besichtigen, Wein trinken und in teuren Restaurants essen. All diese Lotteriemillionäre waren sehr dick und trugen teuren Schmuck, goldene Armbanduhren und Designerbrillen. Der Imagefilm hat in mir die Überzeugung geweckt, dass es überhaupt keine Millionäre mehr geben sollte. Und das habe ich meinen Kollegen dann auch dargelegt. Heute spielen doch eh nur noch die finanziell schlecht Gestellten unter sich den Aufstieg weniger in eine höhere Gesellschaftsschicht aus. Und ich behaupte: Niemand möchte tatsächlich aus dem eigenen Leben mit einem Katapult herausgeschossen werden.
Der LGS denkt an den Text, an dem er gerade sitzt, der sehr bald schon fällig ist, an die Familie Conner, um die es da geht, ihren Lottogewinn und die vermeintliche Einsicht darin, dass alles Geld der Welt auch nicht ersetzen kann, was die einfachen Leute von unten ohnehin schon als Reichtum besessen haben: die Liebe zueinander und die Fähigkeit, klar und wahr und unverstellt sie selbst zu sein und so auch zu sprechen. All you need is love, lieber Raser, Stressor, Hater, Unzufriedener, Freudloser, sagt John Lennon, der nachher auf der Beerdigung noch nachklingt, als Jacky Terrasson seinen Song singt: „Oh my love for the first time in my life my eyes are wide open… I see the wind, oh, I see the trees, everything is clear in my heart. I see the clouds, oh, I see the sky, everything is clear in our world“ – während der fabelhafte Friedwaldförster auf sehr zärtliche Weise zur Musik die Erde ins Grab schaufelt. Dann wieder zurück über Landstraßen und Autobahnen. Schneeregen, wild fahrende Scheibenwischer, ungeduldige Fernfahrer. Einzug in die Unterkunft am Hang. Auf dem Hügel gegenüber, über Mühlstraße und Via Dolorosa erreichbar, die Grabeskirche, Herr Jesus, vor der der Landgastschreiber einst in der Jerusalemer Altstadt ungläubig gestanden hatte und nicht begreifen konnte, wie so viel Wut und Hass und Feindseligkeit sich auf so wenig Raum an alten Steinen entzünden konnte.
Der LGS hat es schon vernommen: auch hier im Ort herrscht der alte Konflikt zwischen Alten und Neuen. Wer bestimmt die Stimmung? Die zuerst da waren oder die Hinzugekommenen?