Die Weltgeschichte

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Straubing, Ansicht von Norden mit Emblemszene

Eine Begegnung der ganz anderen Art war die Begegnung mit dem SS-Unteroffizier Wilhelm Rappl.

Wilhelm Rappl, über den ich nur soviel wusste, als dass er in Straubing geboren war, einer kleinen mittelalterlichen Stadt an der Donau, in Niederbayern [...] – dieser Wilhelm Rappl sagte eines Tages zu mir, als wir gerade allein waren: „Professor, stimmt es, dass du alles weißt?“ Mit der Bescheidenheit, die einem Häftling geziemte, antwortete ich: „Nicht alles, aber vieles.“ [...]

„Pass mal auf, Professor“, sagte er weiter, „ich habe genug davon, von den anderen verachtet werden. [...] Da habe ich mir gedacht, du könntest für mich eine Weltgeschichte schreiben. Ich würde sie auswendig lernen, und meine Kollegen würden über mein Wissen ganz schön staunen.

(Joseph Rovan: Geschichten aus Dachau. DVA, Stuttgart 1989, S. 203)

Als Belohnung stellte Rappl pro Kapitel ein Kommissbrot in Aussicht. Rovan schrieb daraufhin eine Weltgeschichte, die der SS- Mann anschließend mit wenig Erfolg versuchte auswendig zu lernen. Dass Rovan sie um die Geschichte des jüdischen Volkes herum anlegte, begriff Rappel nicht: „Es verschaffte mir eine gewisse Genugtuung, den SS-Mann an die zentrale geschichtliche Rolle jener zu erinnern, die seine Chefs mit ihrem blinden Hass verfolgten“. (Ebda., S. 205)

Am 29. April 1945 wurde Joseph Rovan durch die Amerikaner befreit.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Michaela Karl