Observationsprofi

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Kluftinger übernimmt freiwillig eine Nachtschicht, obwohl er weiß, dass eine solche Aktion kein Zuckerschlecken ist. Er hat seit langem nicht mehr an einer Observation mitgewirkt, sondern diese Aufgabe lieber seinen Mitarbeitern überlassen. Er wollte seine Zeit nicht vergeuden, denn er wusste, dass sein Talent im Analysieren, Recherchieren und im „Wühlen“ lag, wie es sein Chef einmal formuliert hatte.

Wie wichtig eine gute Vorbereitung seiner Aktivitäten ist, weiß der erfahrene Polizist nur zu gut. Bei ihm besteht sie in erster Linie in einer üppigen Brotzeit:

Also packte er ein, worauf er möglicherweise in der Nacht Appetit bekommen könnte: ein Paar Schüblinge mit Semmel, ein Paar Landjäger mit Semmel, Senf für die Schüblinge und die Landjäger, eine Semmel mit geräuchertem Schinken und ein mit einer eineinhalb Zentimeter dicken Schicht aus Bauernsalami belegtes Brot (mit der Wurst sollte man beim belegten Brot nie sparen, das machten seiner Ansicht nach die meisten Menschen falsch), zwei Käsesemmeln, falls er keine Lust auf Wurst haben sollte, und außerdem, weil Käse den Magen schließt, eine Banane, um etwas Leichtes für zwischendurch zu haben, und eine Tafel Schokolade für den Nachtisch. Kluftinger breitete die Sachen auf dem Tisch aus und betrachtete sie. Hatte er etwas vergessen? Er schlug sich an die Stirn: Natürlich, die Essiggurken. Als er noch ein Glas Gurken zu seinen Brotzeit-Utensilien stellte, lächelte er zufrieden, packte alles in die Kühltasche, die er und  seine Frau sonst mit zu ausgedehnten Badetagen nahmen, und machte sich auf den Weg.

(Volker Klüpfel & Michael Kobr: Milchgeld. Kluftingers erster Fall. Piper Verlag, München 2005, S. 252ff.)

Trotz sorgfältigster Planung hat er etwas Wichtiges vergessen, aber als er es entdeckt, ist es bereits zu spät. 

„Sapperment, sapperment“, fluchte er laut. An alles hatte er gedacht, nur nicht an das Wichtigste. Essen, ja aufs Essen könnte er verzichten. Tagelang, wenn es sein musste. Aber aufs Trinken? Es reichten schon wenige Stunden ohne Flüssigkeit, um die ersten Mangelerscheinungen auszulösen, hatte er einmal gelesen. Nach etwa zwei bis drei Tagen konnte man sterben.

Diese Befürchtung teilt er zwar nicht, aber seine Laune verdunkelt sich mehr und mehr, bis er den Ausweg aus seiner misslichen Lage findet.    

Das Plätschern des Baches drängte sich aus seinem Unterbewusstsein in seine Wahrnehmung. Natürlich! Er würde sich eben einfach Wasser aus dem Bach holen. Wie früher. Aber womit? Er blickte sich im Auto um. Das einzige, was dicht halten würde, war die Brotzeittüte, in die er seine Semmel eingepackt hatte. Er legte also alle Brötchen auf den Beifahrersitz und stieg aus. Obwohl der Bach nur wenige Meter entfernt war, musste er vorsichtig sein, um sein Versteck nicht zu verraten. Also ging er in gebückter Haltung bis zum Wasser und ließ die Tüte volllaufen, hatte dabei aber immer ein Auge auf den Hof. Als er wieder im Auto saß, war er mit sich zufrieden. „Wie früher“, sagte er laut und meinte dabei die Zeit, als das Allgäu für ihn und seine Schulfreunde nichts als ein großer Abenteuerspielplatz gewesen war.

(Ebda., S. 255)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Gunna Wendt