Thea Sternheim
Thea Sternheims Tagebuch gilt als herausragende literarische Chronik des 20. Jahrhunderts. Von 1903 an schrieb sie ihre Einträge auf linierten Karten, die sie später binden ließ. Am 3. Juli 1914 notierte sie: „Der österreichische Thronfolger und seine Frau wurden in Sarajewo ermordet.“
26. Juli 1914: Wir stehen vor einem serbisch-österreichischen, vielleicht vor einem allgemeinen Krieg! Welch trübe Aussichten. [...] In welchen Schrecknissen wäre ich in diesen Stunden, wäre mein Junge jetzt zwanzig Jahre alt und Soldat, Wie viele Menschen zittern heute!
Beim Angriff der Deutschen auf das neutrale Belgien musste die Familie, die seit einem Jahr in La Hulpe lebte, fliehen:
5. August 1914: Trüber Tag. Ich verbiete den Kindern im Garten zu lärmen. Halte sie im Haus. Mademoiselle Minsen, die Lehrerin bleibt aus. Wir nähen leinene Beutelchen um so unser Geld auf der Brust zu tragen. Louisa Merk kommt unerwartet. Ich spreche mit ihr, als Karl ins Zimmer stürmt: „Kommt kommt. Jede Minute ist kostbar! Wir müssen fliehen! Alle Deutsche[n] müssen fort! Nichts mitnehmen! Nur fort fort! [...]. Ich packe die erschreckten Kinder vom Spieltisch in ein Auto, das unten wartet. Schneller Abschied von den Mädchen .- dann Karl und ich nach. Jetzt erzählt Karl. Die Deutschen bombardieren Lüttich. Die Panik der Fliehenden, die Wut der Verfolgenden sei unbeschreiblich. Mütter werden von ihren Kindern gerissen, wehrlose Frauen und Greise misshandelt.
Noch während des Krieges kehrten die Sternheims nach Belgien zurück:
3. Februar 1917: Sechzehn Grad Kälte. Das habe ich in Belgien noch nie erlebt. Dazu Hunger und Kohlenmangel. Alles geht zur Neige. Abends [...] kommt Karl mit dem Arzt und Schriftsteller Gottfried Benn. [...] Unter Begriffen wie Gottes Zorn, Vaterland, Bereitschaft für den Staat zu sterben aufgewachsen, fragt er nicht: Wie konnte dieser schreckliche Krieg möglich werden, sondern antwortet: Da er einmal da ist, muss er ausgekämpft werden. Milde ist in keiner Hinsicht am Platze.
(Thea Sternheim: Tagebücher 1903-1925. Bd. 1. Hg. v. Thomas Ehrsam und Regula Wyss. Wallstein Verlag, Göttingen 2011.)
Weitere Kapitel:
Thea Sternheims Tagebuch gilt als herausragende literarische Chronik des 20. Jahrhunderts. Von 1903 an schrieb sie ihre Einträge auf linierten Karten, die sie später binden ließ. Am 3. Juli 1914 notierte sie: „Der österreichische Thronfolger und seine Frau wurden in Sarajewo ermordet.“
26. Juli 1914: Wir stehen vor einem serbisch-österreichischen, vielleicht vor einem allgemeinen Krieg! Welch trübe Aussichten. [...] In welchen Schrecknissen wäre ich in diesen Stunden, wäre mein Junge jetzt zwanzig Jahre alt und Soldat, Wie viele Menschen zittern heute!
Beim Angriff der Deutschen auf das neutrale Belgien musste die Familie, die seit einem Jahr in La Hulpe lebte, fliehen:
5. August 1914: Trüber Tag. Ich verbiete den Kindern im Garten zu lärmen. Halte sie im Haus. Mademoiselle Minsen, die Lehrerin bleibt aus. Wir nähen leinene Beutelchen um so unser Geld auf der Brust zu tragen. Louisa Merk kommt unerwartet. Ich spreche mit ihr, als Karl ins Zimmer stürmt: „Kommt kommt. Jede Minute ist kostbar! Wir müssen fliehen! Alle Deutsche[n] müssen fort! Nichts mitnehmen! Nur fort fort! [...]. Ich packe die erschreckten Kinder vom Spieltisch in ein Auto, das unten wartet. Schneller Abschied von den Mädchen .- dann Karl und ich nach. Jetzt erzählt Karl. Die Deutschen bombardieren Lüttich. Die Panik der Fliehenden, die Wut der Verfolgenden sei unbeschreiblich. Mütter werden von ihren Kindern gerissen, wehrlose Frauen und Greise misshandelt.
Noch während des Krieges kehrten die Sternheims nach Belgien zurück:
3. Februar 1917: Sechzehn Grad Kälte. Das habe ich in Belgien noch nie erlebt. Dazu Hunger und Kohlenmangel. Alles geht zur Neige. Abends [...] kommt Karl mit dem Arzt und Schriftsteller Gottfried Benn. [...] Unter Begriffen wie Gottes Zorn, Vaterland, Bereitschaft für den Staat zu sterben aufgewachsen, fragt er nicht: Wie konnte dieser schreckliche Krieg möglich werden, sondern antwortet: Da er einmal da ist, muss er ausgekämpft werden. Milde ist in keiner Hinsicht am Platze.
(Thea Sternheim: Tagebücher 1903-1925. Bd. 1. Hg. v. Thomas Ehrsam und Regula Wyss. Wallstein Verlag, Göttingen 2011.)