Helene Raff

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Tizian: Mater Dolorosa 1555, Prado Madrid

Die Heldenmutter vermag auch im Tode ihres Kindes, in allem Schmerz, das Positive zu erkennen.

Die Mutter

Sie sitzt gebeugt am Fenster. Ihre Hand
Ruht schlaff auf ihrem schwarzen Klagegewand.
Die sie zu trösten kamen, wies sie fort.
Was soll der Trost! – Sie hört aus jedem Wort
Das eine bloß von schaurig hartem Klang,
Das zu verstehen sie vergeblich rang:
Ihr Sohn, ihr Einz´ger, ihres Herzens Luft,
Fiel in der Schlacht! –

[…]

Da geht die Tür auf: ihre Tochter fliegt
Ihr an den Hals: „Denk! Wiederum gesiegt!
Ein großer Sieg. – O, wie sich jeder freut!-“
Sie stockt, weil sie der Mutter Antlitz scheut;
Das starrt vergrämt. Ein großer Sieg! Und er,
Der jauchzen würde drob – sieht ihn nicht mehr!
O bittres Leid!
Und doch: den Kranz erwarb
Das Land, das Vaterland, für das er starb,
Ja freudig starb, gleich mancher Mutter Sohn!
Wenn Deutschland siegt, ist´s nicht sein höchster Lohn?
Die tapfern Kämpfer, seine Brüder sind´s!
Sie hört im Geist die Stimme ihres Kinds,
So hell und froh, wie er zu Roße stieg –
Und fühlt es: dieser Sieg ist auch sein Sieg!
Warm quillt´s empor in ihrer Seele Grund,
Sie zieht die Tochter nah. Um ihren Mund,
Den bleichen, schwebt´s wie eines Lächelns Hauch;
Und leise spricht sie: „Ja, ich freu mich auch!“ –

(Helene Raff: Die Mutter. In: Aus unserer großen Zeit. Frauenworte. Zum Besten vom Roten Kreuz. J. F. Lehmann‘s Verlag, München 1914, S. 29f.)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Michaela Karl