Grete Weil in Egern am Tegernsee
Die in Egern geborene jüdische Schriftstellerin Grete Weil verbringt regelmäßig die Sommer- und Winterferien im Landhaus ihrer Familie am Tegernsee. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ergreift sie die Flucht nach Amsterdam und kehrt erst 1974 nach Grünwald bei München zurück. Das Tegernseer Haus hat sie inzwischen verkauft. In ihrer Autobiografie Leb ich denn, wenn andere leben (1998) zieht sie über ihren Geburtsort Egern Bilanz:
Niemand kann sich heute vorstellen, was für ein stilles, verträumtes Dorf dieser aufgeblasene Kurort (Egern) einmal war.
[...]
Ein Ort, in dem man jeden Weg, auch den entlegensten, kennt, jeden Baum, jede zarte Linie der Berge, jeden Geruch, jede Beleuchtung, jede bunt blühende Wiese, jeden Bauern, der des Weges kommt, jede Bäuerin in ihrer schönen Tracht, den Klang der Kirchenglocken, ob sie einen Feiertag, die Messe, ein Begräbnis einläuten, oder wenn ein schweres Gewitter mit Sturm droht, auch vor dem Unwetter mit aufgeregtem Gebimmel warnen.
Ein Ort, in dem man das Geräusch der Wellen kennt, die gegen das Ufer schlagen, ein See, den man oft von einem zum anderen Ufer durchschwommen hat, auch im Spätherbst, wenn einem die Kälte den Atem nimmt.
Ein Ort, in dem man, tritt man in ein Geschäft ein, oft mit Namen oder doch mit Handschlag begrüßt wird. Ein Ort, in dem man weiß, dass es in dem einen Kaufhaus nach Appretur von neuen Dirndlstoffen riecht, im anderen nach Wasch- und Putzmittel. [...]
Ein Ort, in dem einen jeder kennt, wo man die Dispeker Gretel heißt, auch wenn man schon längst einen anderen Namen hat.
Ein Ort, in dem man zu Hause ist, wirklich zu Hause, auch dann noch, als über dem Ortsschild ein Transparent mit der Aufschrift hängt: „Juden betreten den Ort auf eigene Gefahr.“ Das Transparent macht die Menschen hässlicher, nicht den Ort.
Der Ort wird erst hässlich, als der Massentourismus einsetzt. (Zit. aus: Grete Weil: Leb ich denn, wenn andere leben. München 1998, S. 47-50. © Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 1998)
Sekundärliteratur:
Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 237f., S. 265.
Weitere Kapitel:
Die in Egern geborene jüdische Schriftstellerin Grete Weil verbringt regelmäßig die Sommer- und Winterferien im Landhaus ihrer Familie am Tegernsee. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ergreift sie die Flucht nach Amsterdam und kehrt erst 1974 nach Grünwald bei München zurück. Das Tegernseer Haus hat sie inzwischen verkauft. In ihrer Autobiografie Leb ich denn, wenn andere leben (1998) zieht sie über ihren Geburtsort Egern Bilanz:
Niemand kann sich heute vorstellen, was für ein stilles, verträumtes Dorf dieser aufgeblasene Kurort (Egern) einmal war.
[...]
Ein Ort, in dem man jeden Weg, auch den entlegensten, kennt, jeden Baum, jede zarte Linie der Berge, jeden Geruch, jede Beleuchtung, jede bunt blühende Wiese, jeden Bauern, der des Weges kommt, jede Bäuerin in ihrer schönen Tracht, den Klang der Kirchenglocken, ob sie einen Feiertag, die Messe, ein Begräbnis einläuten, oder wenn ein schweres Gewitter mit Sturm droht, auch vor dem Unwetter mit aufgeregtem Gebimmel warnen.
Ein Ort, in dem man das Geräusch der Wellen kennt, die gegen das Ufer schlagen, ein See, den man oft von einem zum anderen Ufer durchschwommen hat, auch im Spätherbst, wenn einem die Kälte den Atem nimmt.
Ein Ort, in dem man, tritt man in ein Geschäft ein, oft mit Namen oder doch mit Handschlag begrüßt wird. Ein Ort, in dem man weiß, dass es in dem einen Kaufhaus nach Appretur von neuen Dirndlstoffen riecht, im anderen nach Wasch- und Putzmittel. [...]
Ein Ort, in dem einen jeder kennt, wo man die Dispeker Gretel heißt, auch wenn man schon längst einen anderen Namen hat.
Ein Ort, in dem man zu Hause ist, wirklich zu Hause, auch dann noch, als über dem Ortsschild ein Transparent mit der Aufschrift hängt: „Juden betreten den Ort auf eigene Gefahr.“ Das Transparent macht die Menschen hässlicher, nicht den Ort.
Der Ort wird erst hässlich, als der Massentourismus einsetzt. (Zit. aus: Grete Weil: Leb ich denn, wenn andere leben. München 1998, S. 47-50. © Nagel & Kimche im Carl Hanser Verlag, München 1998)
Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 237f., S. 265.