Frank Wedekind: Ein Bilderrätsel
Während Wedekind am Herakles schreibt, verfasst er den balladesken Einakter Überfürchtenichts. Der Titel, endgültig am 17. Juli 1916 bezeugt, ist aus dem Arbeitstitel „Oben oder unten, ein Bilderräthsel“ heraus entstanden.
Das Dramolett setzt sich aus drei Balladen zusammen. Die beiden ersten Balladen erzählen von Macht und Liebe in partnerschaftlicher Koexistenz: Wer liegt oben, wer liegt unten? Die zweite Ballade erzählt von einer Kriegerfrau. Sie schläft, während ihr Mann an der Front kämpft, mit einem todwunden Soldaten und bekommt von ihm ein Kind. Was im individuellen Zusammenleben sich ereignet, wiederholt sich im gesellschaftlichen auf internationaler Bühne in der dritten Ballade. Obwohl sie zunächst politische und militärische Gegner sind, verbünden sich schließlich der russische Zar Peter I. und der preußische König Friedrich I. Zur Besiegelung des – historisch verbürgten – Bündnisses schließen der kunstsinnige Peter I. und Friedrich Wilhelm I. – in Wirklichkeit wie im Überfürchtenichts – ein Tauschgeschäft ab. Politische Koexistenz wird erreicht durch Kunst und Kommerz: Für 55 sog. Lange Kerls schenkt ihm der wenig an Kunstschätzen interessierte Preußenkönig das für das Berliner Stadtschloss eingerichtete Bernsteinzimmer. Hier das (Rätsel-)Bild – dort seine Betrachter! Dieser theatrale Gestus delegiert die Lösung des Rätsels an die Zuschauer. Was werden sie in den sich spiegelnden Bildern sehen? Wie werden sie antworten? Wofür werden sie sich entscheiden: für „Krieg!“ oder für „Frieden!“?
(Vinçon, Hartmut [2014]: Frank Wedekind und der Erste Weltkrieg, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=19610)
Das Rätsel steckt bereits im Titel: Überfürchtenichts ist ein Kompositum aus „Über-“ und „fürchtenichts“. Während ersteres als parodistischer Reflex auf die zeitgenössische Nietzsche-Rezeption und ihre begriffliche Verwendung des „Übermenschen“ und dessen Lehre der „Überwindung“ verweist, steht „Fürchtenichts“ als wörtliche Übersetzung der Bezeichnung einer englischen Schlachtschiffgattung, der sog. „Dreadnoughts“. Diese wurden erstmals 1906 eingeführt und zielten darauf, die auf Ebenbürtigkeit zielende Flottenpolitik Wilhelm II. in Frage zu stellen; sie führten allerdings nur dazu, die deutsche Kriegsmarine weiter aufrüsten zu lassen – eben mit Schiffen vom Typ eines „Überfürchtenichts“! Die einzige Dreadnought-Schlacht des Ersten Weltkrieges, die Skagerrakschlacht (1916), verlief dagegen strategisch relativ ergebnislos. Frank Wedekind mag auf diesen militärischen Sachverhalt bei seiner Verwendung des Titels sprachlich-ironisch angespielt haben.
(Sprengel, Peter [2001]: Oben oder unten?, S. 191f.)
Weitere Kapitel:
Während Wedekind am Herakles schreibt, verfasst er den balladesken Einakter Überfürchtenichts. Der Titel, endgültig am 17. Juli 1916 bezeugt, ist aus dem Arbeitstitel „Oben oder unten, ein Bilderräthsel“ heraus entstanden.
Das Dramolett setzt sich aus drei Balladen zusammen. Die beiden ersten Balladen erzählen von Macht und Liebe in partnerschaftlicher Koexistenz: Wer liegt oben, wer liegt unten? Die zweite Ballade erzählt von einer Kriegerfrau. Sie schläft, während ihr Mann an der Front kämpft, mit einem todwunden Soldaten und bekommt von ihm ein Kind. Was im individuellen Zusammenleben sich ereignet, wiederholt sich im gesellschaftlichen auf internationaler Bühne in der dritten Ballade. Obwohl sie zunächst politische und militärische Gegner sind, verbünden sich schließlich der russische Zar Peter I. und der preußische König Friedrich I. Zur Besiegelung des – historisch verbürgten – Bündnisses schließen der kunstsinnige Peter I. und Friedrich Wilhelm I. – in Wirklichkeit wie im Überfürchtenichts – ein Tauschgeschäft ab. Politische Koexistenz wird erreicht durch Kunst und Kommerz: Für 55 sog. Lange Kerls schenkt ihm der wenig an Kunstschätzen interessierte Preußenkönig das für das Berliner Stadtschloss eingerichtete Bernsteinzimmer. Hier das (Rätsel-)Bild – dort seine Betrachter! Dieser theatrale Gestus delegiert die Lösung des Rätsels an die Zuschauer. Was werden sie in den sich spiegelnden Bildern sehen? Wie werden sie antworten? Wofür werden sie sich entscheiden: für „Krieg!“ oder für „Frieden!“?
(Vinçon, Hartmut [2014]: Frank Wedekind und der Erste Weltkrieg, http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=19610)
Das Rätsel steckt bereits im Titel: Überfürchtenichts ist ein Kompositum aus „Über-“ und „fürchtenichts“. Während ersteres als parodistischer Reflex auf die zeitgenössische Nietzsche-Rezeption und ihre begriffliche Verwendung des „Übermenschen“ und dessen Lehre der „Überwindung“ verweist, steht „Fürchtenichts“ als wörtliche Übersetzung der Bezeichnung einer englischen Schlachtschiffgattung, der sog. „Dreadnoughts“. Diese wurden erstmals 1906 eingeführt und zielten darauf, die auf Ebenbürtigkeit zielende Flottenpolitik Wilhelm II. in Frage zu stellen; sie führten allerdings nur dazu, die deutsche Kriegsmarine weiter aufrüsten zu lassen – eben mit Schiffen vom Typ eines „Überfürchtenichts“! Die einzige Dreadnought-Schlacht des Ersten Weltkrieges, die Skagerrakschlacht (1916), verlief dagegen strategisch relativ ergebnislos. Frank Wedekind mag auf diesen militärischen Sachverhalt bei seiner Verwendung des Titels sprachlich-ironisch angespielt haben.
(Sprengel, Peter [2001]: Oben oder unten?, S. 191f.)