Heinrich Mann: Zola und der Bruderkrieg
In dem November 1915 in René Schickeles Weißen Blättern erschienenen Essay Zola schreibt Heinrich Mann seine Lebensgeschichte im Wilhelminismus in die Lebensgeschichte des Schriftstellers und Journalisten Émile Zola (1840-1902) im französischen Kaiserreich ein: „Als der Zusammenbruch kam, erinnerte ich mich daran, daß auch Zola den Zusammenbruch des Kaiserreiches gebraucht hatte, als er seine Geschichte in Romanen begann.“ Das Trauma des Ersten Weltkrieges „wird durch das Medium Zola rationalisiert und durchgearbeitet.“ (Schuhmacher, Klaus [2000]: Heinrich Mann, S. 134) Zola hatte Ende des 19. Jahrhunderts eine führende Rolle im Dreyfus-Prozess gespielt – mit seinem Artikel J'accuse...! sorgte er für ein Fanal in der französischen Öffentlichkeit, indem er sich für den zu Unrecht wegen Hochverrats verurteilten Dreyfus politisch einsetzte.
Zolas Rolle im Prozess lässt ebenfalls die Rolle der deutschen Schriftsteller im Weltkrieg durchscheinen. Sein Handeln wird zum Vorbild des Intellektuellen, wie er sein soll: ein Kämpfer für Wahrheit, Vernunft, Frieden und Demokratie. „Intellektuelle“, so Heinrich Mann,
sind weder Liebhaber noch Handwerker des Geistes. Man wird es nicht, indem man gewisse Berufe inne hat. Man wird es noch weniger durch das lüsterne Betasten geistiger Erscheinungsformen, – und am wenigsten sind jene Tiefschwärzer gemeint, die gedankliche Stützen liefern für den Ungeist [...]. Der Intellektuelle erkennt Vergeistigung nur an, wo Versittlichung erreicht ward. Er wäre nicht, der er ist, wenn er Geist sagte, ohne Kampf für ihn zu meinen. [...] Ein Krieg kann notwendig und sittlich sein; aber er sei die Krönung eines langen Ringens nach Wahrheit.
(zit. n. Schröter, Klaus [Hg.] [20002]: Thomas Mann im Urteil seiner Zeit, S. 69)
Gerade aber die Betonung der „Versittlichung“ bei gleichzeitiger Denunzierung deutscher Defizite („Tiefschwärzer“) ruft den Widerspruch des Bruders Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) hervor. Dass sich dieser im Zola-Essay persönlich angesprochen fühlt, belegt bereits der zweite Satz des Essays: „Sache derer, die früh vertrocknen sollen, ist es, schon zu Anfang ihrer zwanzig Jahre bewußt und weltgerecht hinzutreten“. In den Betrachtungen eines Unpolitischen führt Thomas Mann das „schmucke Sätzchen“ als Beispiel „radikaler Polemik“ an: „Es ist ja ein kleiner Guß Schwefelsäure, en passant dem Nächsten ins Angesicht.“ Heinrich Mann lässt daraufhin den zweiten Satz im späteren Wiederabdruck des Zola im Sammelband Geist und Tat (1931) weg.
Thomas Mann bekommt den Zola zwar erst Mitte Januar 1916 zu Gesicht, er fasst aber den Essay sogleich als vernichtenden Angriff auf seine ganze Existenz auf. Kein Wunder – hat er doch schon in seinen hochpolitischen Gedanken im Kriege den Einwurf Heinrichs ausgelöst. Der nachfolgende Aufsatz Friedrich und die große Koalition, der vom „nihilistischen Fanatismus der Leistung“ spricht, verstärkt die angespannte Situation noch. Zola, von Heinrich Mann aus betrachtet, wird so zum polemischen Gegenbild des deutschen Künstlers und damit auch der allgemeine Große Krieg zum privaten Krieg der verfeindeten Brüder: „nicht nur Frankreich steht gegen Deutschland, sondern Heinrich gegen Thomas, der Zivilisationsliterat gegen den Künstler, der Demokrat gegen den Monarchisten, der aktivistische Neopathetiker gegen den demütig aufnehmenden Pathoskritiker, der expressionistische Satiriker gegen den impressionistischen Ironiker, der Politiker gegen den Unpolitischen.“
Erst Anfang 1922, bedingt durch eine lebensbedrohliche Krankheit Heinrichs, kommt es zur Versöhnung.
(Kurzke, Hermann [19973]: Thomas Mann, S. 142-147)
(Schröter, Klaus [Hg.] [20002]: Thomas Mann im Urteil seiner Zeit, S. 487f.)
Weitere Kapitel:
In dem November 1915 in René Schickeles Weißen Blättern erschienenen Essay Zola schreibt Heinrich Mann seine Lebensgeschichte im Wilhelminismus in die Lebensgeschichte des Schriftstellers und Journalisten Émile Zola (1840-1902) im französischen Kaiserreich ein: „Als der Zusammenbruch kam, erinnerte ich mich daran, daß auch Zola den Zusammenbruch des Kaiserreiches gebraucht hatte, als er seine Geschichte in Romanen begann.“ Das Trauma des Ersten Weltkrieges „wird durch das Medium Zola rationalisiert und durchgearbeitet.“ (Schuhmacher, Klaus [2000]: Heinrich Mann, S. 134) Zola hatte Ende des 19. Jahrhunderts eine führende Rolle im Dreyfus-Prozess gespielt – mit seinem Artikel J'accuse...! sorgte er für ein Fanal in der französischen Öffentlichkeit, indem er sich für den zu Unrecht wegen Hochverrats verurteilten Dreyfus politisch einsetzte.
Zolas Rolle im Prozess lässt ebenfalls die Rolle der deutschen Schriftsteller im Weltkrieg durchscheinen. Sein Handeln wird zum Vorbild des Intellektuellen, wie er sein soll: ein Kämpfer für Wahrheit, Vernunft, Frieden und Demokratie. „Intellektuelle“, so Heinrich Mann,
sind weder Liebhaber noch Handwerker des Geistes. Man wird es nicht, indem man gewisse Berufe inne hat. Man wird es noch weniger durch das lüsterne Betasten geistiger Erscheinungsformen, – und am wenigsten sind jene Tiefschwärzer gemeint, die gedankliche Stützen liefern für den Ungeist [...]. Der Intellektuelle erkennt Vergeistigung nur an, wo Versittlichung erreicht ward. Er wäre nicht, der er ist, wenn er Geist sagte, ohne Kampf für ihn zu meinen. [...] Ein Krieg kann notwendig und sittlich sein; aber er sei die Krönung eines langen Ringens nach Wahrheit.
(zit. n. Schröter, Klaus [Hg.] [20002]: Thomas Mann im Urteil seiner Zeit, S. 69)
Gerade aber die Betonung der „Versittlichung“ bei gleichzeitiger Denunzierung deutscher Defizite („Tiefschwärzer“) ruft den Widerspruch des Bruders Thomas Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) hervor. Dass sich dieser im Zola-Essay persönlich angesprochen fühlt, belegt bereits der zweite Satz des Essays: „Sache derer, die früh vertrocknen sollen, ist es, schon zu Anfang ihrer zwanzig Jahre bewußt und weltgerecht hinzutreten“. In den Betrachtungen eines Unpolitischen führt Thomas Mann das „schmucke Sätzchen“ als Beispiel „radikaler Polemik“ an: „Es ist ja ein kleiner Guß Schwefelsäure, en passant dem Nächsten ins Angesicht.“ Heinrich Mann lässt daraufhin den zweiten Satz im späteren Wiederabdruck des Zola im Sammelband Geist und Tat (1931) weg.
Thomas Mann bekommt den Zola zwar erst Mitte Januar 1916 zu Gesicht, er fasst aber den Essay sogleich als vernichtenden Angriff auf seine ganze Existenz auf. Kein Wunder – hat er doch schon in seinen hochpolitischen Gedanken im Kriege den Einwurf Heinrichs ausgelöst. Der nachfolgende Aufsatz Friedrich und die große Koalition, der vom „nihilistischen Fanatismus der Leistung“ spricht, verstärkt die angespannte Situation noch. Zola, von Heinrich Mann aus betrachtet, wird so zum polemischen Gegenbild des deutschen Künstlers und damit auch der allgemeine Große Krieg zum privaten Krieg der verfeindeten Brüder: „nicht nur Frankreich steht gegen Deutschland, sondern Heinrich gegen Thomas, der Zivilisationsliterat gegen den Künstler, der Demokrat gegen den Monarchisten, der aktivistische Neopathetiker gegen den demütig aufnehmenden Pathoskritiker, der expressionistische Satiriker gegen den impressionistischen Ironiker, der Politiker gegen den Unpolitischen.“
Erst Anfang 1922, bedingt durch eine lebensbedrohliche Krankheit Heinrichs, kommt es zur Versöhnung.
(Kurzke, Hermann [19973]: Thomas Mann, S. 142-147)
(Schröter, Klaus [Hg.] [20002]: Thomas Mann im Urteil seiner Zeit, S. 487f.)