Katia Mann in Oberammergau

Die Ehefrau des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann ist im Frühjahr 1920 sechs Wochen auf Kur in Oberammergau. In dieser Zeit versorgt sie ihn mit vielen schriftlichen Details aus dem Sanatoriumsmilieu für seinen Roman Der Zauberberg. Ihre Briefe gewähren dabei einen Blick hinter die Kulissen der Kurorte im Alpenvorland:

Es herrscht ja ein ganz freundlich, geselliger Ton, und nach dem Abendbrot nehme ich meist ein halbes Stündchen daran teil, womit mein Konversations-Bedürfnis befriedigt ist. Es sind aber doch, im Gegensatz zu meinen beiden ersten Aufenthalten, mit Ausnahme eines ganz sympathischen jungen norddeutschen Mädchens, weiß Gott lauter Juden, aber keine von der unangenehmen Sorte. Auch das russische Paar ist natürlich jüdisch, aber ganz appart, indem der junge Mann, von russisch-jüdischen Zionisten abstammend, in Palestina aufgewachsen, hebräisch als eigentliche Muttersprache spricht, außerdem russisch und französisch, dann in Genf und Paris studiert hat, und, geistig recht angeregt und trotz allem auch irgendwie russisch-schwatzhaft veranlagt, lange französische ganz unterhaltende, vorwiegend politische Reden führt, während die Frau, eine kleine russisch-jüdische Studentin, da sie aber ihr erstes, drei-Monat altes Kind an Sepsis verloren haben, einen stillen, melancholischen Eindruck macht. Eine Frau Katzenstein ist auch da, eine Ingenieursgattin aus Düsseldorf, aus der ich, Reminiszenzen austauschend, dieses oder jenes brauchbare Detail herausgelockt habe. Das Essen ist auch wieder sehr leidlich, und die Hauptannehmlichkeit ist der gedeckte Balkon, mit dessen Hilfe ich mich trotz des vielen Regens – eben scheint ja eine etwas trügerische Sonne – ziemlich den ganzen Tag im Freien aufhalten kann. Ich habe in den letzten Tagen zweimal gemessen, nachmittag, und nicht mehr als 37,2 oder 3 erzielt, womit doch der Beweis erbracht ist, daß die vorherige Temperatur nicht, wie Müller meint, meine normale war. Aber da bin ich ja wieder ganz genesen! [...] (Zit. aus: Katia Mann: Katia Mann an Thomas Mann, Oberammergau, 16. Juni 1920 [gekürzte Fassung]. © Frido Mann)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2011): Literarische Sommerfrische. Künstler und Schriftsteller im Alpenvorland. Ein Lesebuch. Allitera Verlag, München, S. 218, S. 257.