Ein Flaneur aus Berlin

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Berlin, Kurfürstendamm

Franz Hessel ist ein Liebhaber der Großstadt, die er mit staunendem Blick immer wieder zu Fuß erobert. Eine der prägendsten Städte für ihn ist Berlin.

Die Tauentzienstraße und der Kurfürstendamm haben die hohe Kulturmission, den Berliner das Flanieren zu lehren, es sei denn, dass diese urbane Betätigung überhaupt abkommt. Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät. Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Cafeterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben. Um richtig zu flanieren, darf man nichts allzu Bestimmtes vorhaben.

(Franz Hessel: Spazieren in Berlin. Mit einem Geleitwort von Stéphane Hessel. Berlin Verlag Taschenbuch, Berlin 2012, S. 156.)

In Berlin heiratet er im Juni 1913 seine große Liebe Helen Grund. Hier kommen auch seine beiden Söhne Ulrich und Stefan zur Welt. Dass sich das Paar bald nach der Geburt der Kinder voneinander entfernt, liegt nicht nur daran, dass Hessel sich bei Kriegsbeginn 1914 freiwillig an die Front meldet, sondern auch an seiner introvertierten Art, mit der seine lebenshungrige Frau nur schwer zurechtkommt:

Es ist eine Art Mannesschwäche in diesem Mann, etwas fast Weibliches (nicht: Weibisches) – [...] es ist etwas Lebensuntüchtiges, oh, wie soll ich dies Wort hinmalen, damit es nicht nach Bart und Hornbrille schmeckt? Und das weiß Hessel. Und weil er klug ist, macht er aus der Not eine Tugend und spielt, ein wenig kokett, den Lebensuntüchtigen: Ich bin nämlich ein stiller, bescheidener Dichter... das ist nicht unangenehm, nur ein wenig monoton [...].

(Kurt Tucholsky: Auf dem Nachttisch 1929. In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 7 [1929]. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 217.)

Helens Affäre mit Thankmar von Münchhausen im Frühjahr 1919 inspiriert Hessel zu seiner Dreiecksgeschichte Heimliches Berlin:

„Wie kann man lieben, ohne besitzen zu wollen?“

„Du fragst erschütternd. Ist hier meine Schwäche? Ich habe es wohl nie begriffen, dass zum Lieben Besitzen gehört. Da müßte man sich ja das geliebte Wesen aneignen und also enteignen, und was man mit sich vereint, das ändert man. Ich aber möchte alles erhalten, wie es mir erst erschien.“

(Franz Hessel: Heimliches Berlin. Berlin Verlag Taschenbuch, Berlin 2013, S. 100.)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Michaela Karl