Herr Meyer

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Dezember 1895. Geheimpolizeiliche Karteikarte Lenins

Während Nadeschda Krupskaja noch bis März 1901 in Sibirien bleiben muss, reist Lenin nach Ende seiner Verbannung am 29. Juli 1900 über Zürich und Genf nach München. Er findet Unterschlupf bei Georg Rittmeyer, einem bekannten Münchner Sozialdemokraten. Rittmeyer ist der Sohn eines Brauereibesitzers aus Forchheim. 1899 eröffnet er in der Kaiserstraße 53 das Lokal „Zum Onkel“, das rasch zum Treffpunkt für Münchens Sozialdemokraten wird. In einer unbewohnten Wohnung im Hinterhaus bringt Rittmeyer seinen neuen Mieter unter. In zahlreichen Briefen berichtet Lenin seiner Mutter vom Leben in München:

Schade, dass bei Euch eine so schreckliche Kälte herrscht: wenn ich hier den Deutschen (oder Tschechen) von den Temperaturen von 28 R  erzähle, ächzen die Leute nur und wundern sich, wie die Russen das eigentlich aushalten. Hier gelten 8-10 R als Kälte, als furchtbare Kälte, fast alle Leute gehen nur in Herbstmänteln (allerdings tragen sie größtenteils noch wollene Strickjacken). Auch die Häuser sind hier überhaupt nicht für die große Kälte eingerichtet, die Wände sind dünn, die Fenster werden nicht fest abgedichtet, sehr oft gibt es nicht einmal Winterfenster. Meinetwegen machst Du Dir unnötig Sorgen: ich werde in einer Pension, in der ich seit dem Herbst ständig einkehre, gut beköstigt. Ich fühle mich wohl – wahrscheinlich, weil ich wenig sitze und viel herumlaufe. Jetzt ist Nadjas Ankunft nicht mehr so fern. In 2 1/2 Monaten geht ihre Verbannungszeit zu Ende, und dann werde ich mich ganz einrichten, wie es sich gehört.

(W. I. Lenin an seine Mutter M. A. Uljanowa. München 16. Januar 1901. In: W. I. Lenin: Werke. Bd. 37. Briefe an die Angehörigen 1893-1922. Dietz, Berlin 1964, S. 254.)

Dieser Tage ist hier der Karneval zu Ende gegangen. Ich habe zum erstenmal den letzten Karnevalstag im Ausland erlebt – kostümierte Umzüge durch die Straßen, allgemeines Narrentreiben, Wolken von Konfetti (kleine bunte Papierschnitzel) die man sich ins Gesicht wirft, Papierschlangen usw. usf. Sie verstehen es hier, sich öffentlich, auf den Straßen zu amüsieren.

(W. I. Lenin an seine Mutter M. A. Uljanowa. München 20. Januar 1901. Ebda., S. 260.)

Aus Angst vor der Geheimpolizei vermeidet Lenin Angaben über seinen Aufenthaltsort und nennt auch niemals den Namen, unter dem er in München bekannt ist. Als Nadeschda Krupskaja ihm nach Ende ihrer Verbannung folgen will, braucht sie eine ganze Weile, ehe sie „Herrn Meyer“ findet.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Michaela Karl