D. H. Lawrence in Oberbayern: Bayerische Enziane

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Tegernsee um 1900. Fotochromdruck.

Kaffee Angermaier. Rottach-am-Tegernsee, Oberbayern
30 Aug 1929.

Dear Pino

Here we are up among the mountains again. It is quite beautiful, and very peaceful, cows and haymaking and apples on tall old apple-trees, dropping so suddenly. We eat in the little inn – such a smell of cows – and it's quite nice. I believe you'd like it. But I find even this altitude makes my heart go too fast – we are about 800 metri. (The Letters of D. H. Lawrence, Vol. 7, S. 455)

Im Spätsommer 1929 kommt Lawrence mit Frieda für mehrere Wochen an den Tegernsee, um sich von seiner Lungentuberkulose, an der er seit seiner Jugend leidet, kurieren zu lassen. Vom 26. August bis zum 17. September 1929 hält er sich in Rottach am Tegernsee auf. Seine Unterkunft ist das Kaffee Angermaier im Ortsteil Berg, damals eine Fremdenpension. Lawrence steht seit 1927 in brieflich-freundschaftlichem Kontakt mit dem aus Würzburg stammenden jüdischen Arzt Dr. med. Max Mohr, der sich als Roman- und Stückeschreiber im Löblhof in der Wolfsgrub hinter Rottach niedergelassen hat. Dorthin lädt Mohr seinen Freund und dessen Frau mehrfach ein, einen Kuraufenthalt zu verbringen. Frieda schildert die schwere Genesung Lawrences wie folgt:

Wir wohnten in einem einfachen Bauernhaus; es war Herbst. Lawrence mußte viel liegen. Meine Schwester Else und Alfred Weber besuchten uns. [...] Max Mohr brachte Ärzte aus München zu uns, aber ärztliche Kunst konnte Lawrence nicht helfen – er war zu zart und empfindsam. Herbstnächte kamen, in denen ich glaubte, das Ende sei da. Ich lauschte durch die offene Tür die ganze Nacht auf seinen Atem, ein Käuzchen schrie Übel verheißend draußen im Nußbaum. Im Morgengrauen schien ein Riesenstrauß Enzian, den ich auf den Fußboden an das Fußende seines Bettes gestellt hatte, das einzig Lebendige im Zimmer. Aber er erholte sich und in kleinen Stationen brachten Max Mohr und ich ihn in den Süden nach Bandol. (Nur der Wind..., S. 267)

Die Vase mit Enzianen inspiriert Lawrence schließlich zur Abfassung eines seiner berühmtesten Gedichte „Bayerische Enziane“ („Bavarian Gentians“). Seit seinem ersten Aufenthalt in Oberbayern 1912 hat ihn diese Blume mit ihrer blauvioletten Farbe zeitlebens fasziniert. Auch in Mr. Noon ist Gilbert von der Vollkommenheit der Enziane angezogen: „Sie standen niedrig in dem struppigen Gras auf der Böschung, und so blau, daß sein Herz wieder eine seiner Grenzen zu sprengen und weiter zu schwingen schien. [...] Er berührte die vollkommenen Blütenblätter mit dem Finger.“ (Mr. Noon, S. 159)

Wie in den Romanen versucht Lawrence in seiner Lyrik das Pulsieren des Lebensstroms in Tier, Pflanze und Mensch darzustellen. In „Bayerische Enziane“ zeugt die blaue Blume sowohl von der Dunkelheit der Unterwelt Plutos als auch von der Kraft, im Fackelschein der Blume dieses Dunkel zu durchschreiten:

Bavarian Gentians

Not every man has gentians in his house
in Soft September, at slow, Sad Michaelmas.

Bavarian gentians, big and dark, only dark
darkening the day-time torch-like with the smoking blueness of Pluto's gloom,
ribbed and torch-like, with their blaze of darkness spread blue
down flattening into points, flattened under the sweep of white day
torch-flower of the blue-smoking darkness, Pluto's dark-blue daze,
black lamps from the halls of Dio, burning dark blue,
giving off darkness, blue darkness, as Demeter's pale lamps give off light,
lead me then, lead me the way.

Reach me a gentian, give me a torch
let me guide myself with the blue, forked torch of this flower
down the darker and darker stairs, where blue is darkened on blueness,
even where Persephone goes, just now, from the frosted September
to the sightless realm where darkness is awake upon the dark
and Persephone herself is but a voice
or a darkness invisible enfolded in the deeper dark
of the arms Plutonic, and pierced with the passion of dense gloom,
among the splendour of torches of darkness, shedding darkness on the lost bride and her groom.[1]



[1] „Nicht jeder Mann hat Enziane in seinem Haus / im milden September, am ernsten trauervollen Michaelsfest. // Bayerische Enziane, groß und dunkel, nichts als dunkel, / verdunkelnd den Tag fackelgleich mit der rauchenden Bläue von Plutos Finsternis, / gerippt und fackelgleich, mit ihrer Lohe von Dunkelheit blau ausgebreitet, / sich niederwärts abflachend zu spitzen Zipfeln, flach zusammengedrückt unter der riesigen Wölbung weißen Tages, / Fackelblüte der blau-aufrauchenden Dunkelheit, Plutos blendendem Dunkelblau, / schwarze Lampen aus den Hallen des Dio, brennend dunkelblau, / Dunkelheit ausstrahlend, blaue Dunkelheit, wie Demeters blasse Lampen Licht ausstrahlen, / führe mich denn, führe mich den Pfad hinab. // Reiche mir eine Enzianblüte, gib mir eine Fackel, / daß ich selber mich führe mit der blauen, gegabelten Fackel dieser Blume / hinunter die immer dunkleren Stufen, wo Blau sich verdunkelt auf Bläue, / ebendorthin, wohin Persephone geht, ebenjetzt, aus dem bereiften September / in das sichtlose Reich, wo die Dunkelheit wach ist über dem Dunkel / und Persephone selbst nur eine Stimme ist / oder eine unsichtbare Dunkelheit, umfangen vom tieferen Dunkel / der Arme Plutos und durchdrungen ganz von der Leidenschaft dichter Finsternis, / unter dem prunkenden Schein von Fackeln der Finsternis, die Dunkelheit / strömen auf die verlorene Braut und ihren Bräutigam.“ (Moderne englische Lyrik, S. 140-143)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik