D. H. Lawrence in Oberbayern: Der Weg zur Kapelle

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Auf der Wanderung zwischen Ross- und Buchstein. Fotogravur um 1910/1920. (Bayerische Staatsbibliothek/Porträtsammlung)

Wir sind vom Isartal bis hierhergewandert, Frieda und ich –, oder jedenfalls ziemlich weit –, auf dem Rücken unsre deutschen Rucksäcke. An den Flüssen kochten wir Tee und aßen. Beim Überqueren der Berge haben wir uns eines Nachts verirrt. Ich fand eine reizende kleine Holz-Kapelle, leer und verlassen, und zündete die Kerzen an und betrachtete die Hunderte von Votivbildern – sehr merkwürdig! Dann entdeckte ich, daß F. weg war! Aber sie kehrte zur Kapelle zurück und sagte, daß wir zuoberst auf einem Bergpaß wären und daß auf der Almwiese eine Heuhütte sei. Dort verbrachten wir die Nacht. Im Morgengrauen standen rings um uns her die Gipfel, und wir waren anscheinend in einem Kessel, dessen Boden eine grüne Bergwiese war. (Briefe, S. 67)

Von Fleck aus führt ein Almweg zur Röhrlmoos-Alm mit Heustadeln, wo Lawrence und Frieda auf ihrer Wanderung durch die Alpen eine abenteuerliche Gewitternacht erleben. Es ist schon später Nachmittag am 6. August 1912, als sie sich auf den Weg über den Pass nach Röhrlmoos (in Richtung Glashütte) machen. Nicht anders ergeht es den beiden Protagonisten im Roman Mr. Noon: „Um fünf Uhr beschlossen Johanna und Gilbert, auf einem Fußpfad über den Einschnitt eines Passes zwischen zwei Tälern zu klettern. Es würde zehn Meilen Landstraße abkürzen.“ (Mr. Noon, S. 353f.) Dieselbe Etappe schildert Lawrence zugleich in einer seiner Kurzgeschichten Eine Kapelle in den Bergen (A Chapel Among the Mountains). Die handelnden Personen sind hier der namenlose Ich-Erzähler und seine Geliebte Anita:

Man hatte uns gesagt, es gebe einen Fußweg über den Berg, der in dreieinhalb Stunden nach Glashütte führt. Es war tatsächlich eine schwache Wegspur da, und unzählige Erdbeeren wie rötliche Sterne und ein paar blaue Heidelbeeren. Wir kletterten einen großen, steilen Hang hinan und krabbelten jenseits in einen Tannenwald hinunter. Dort war es dumpf und dunkel und deprimierend. [...] Wir mühten uns eine Stunde lang weiter und überquerten die Flanke eines Hanges, der schwarz und naß und düster war; zwischen Tannen sahen wir jenseits der Schlucht einen anderen schwarzen und düsteren und abschreckenden Hang, der uns alle Sicht nahm. Zwei Stunden lang rutschten und rangen wir, und noch immer steckten wir tief drinnen, eingeklemmt zwischen den beiden schwarzen Hängen, und hörten das Wasser, das unheimlich und lärmend am Grunde der Falle dahinfloß. (Der Fremdenlegionär, S. 134)

Auf ihrer Wanderung verirren sich die Liebenden Lawrence und Frieda, Gilbert und Johanna, der Ich-Erzähler und Anita. Immerhin erreichen sie einen steilen Pfad, der von Winkel hinauf nach Röhrlmoos führt. Die Holzhütte, die sie dort zwischen den Bäumen erblicken, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Kapelle:

Sie waren auf einer holprigen, felsigen Wegspur zwischen Bäumen. Es war beinahe Nacht, und der Eisgeruch in der Luft war stark. Er schwieg, und sie hatte mittlerweile Angst.

„Wir werden auf einer der Almen einen Heuschober finden“, sagte sie.

„Dann mal los“, antwortete er.

Weiter gingen sie in der fast vollständigen Dunkelheit. Und plötzlich, an einer Biegung der Straße, zwischen dichten Bäumen, eine kleine Hütte. Sie öffneten die Tür. Es war eine winzige Kapelle mit zwei Bänken, auf denen je vier Personen sitzen könnten, und einem winzigen Altar. Er riß ein Streichholz an und entzündete die Altarkerzen. (Mr. Noon, S. 355)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik