Ein Menschenliebhaber
Für den Schriftsteller Ludwig Ganghofer (1855-1920), dessen Theaterstück Der Herrgottschnitzer von Oberammergau genau wie Ibsens Nora 1880 in München Premiere hatte, bedeutete das Werk des Kollegen ein überwältigendes einzigartiges Ereignis, das ihn die Fassung verlieren ließ. Er konnte keine Distanz mehr herstellen zwischen sich und dem Theatergeschehen, ließ seinen Emotionen freien Lauf und verteidigte den Menschenliebhaber Ibsen gegen die ungerechtfertigte Kritik der Ignoranten.
Und bald darauf ein unerhörtes, ein Herz und Seele schüttelndes Erlebnis! Die Uraufführung von Ibsens Nora im Residenztheater. Dieses Stück ist niemals wieder auf einer deutschen Bühne besser gespielt worden als damals in München. Das war ein Vollendetes. Und versank. Und wird niemals wiederkommen. Eine glückliche Fügung – das Wort Zufall wäre minderwertig – hatte am Residenztheater eine Schar von Künstlern versammelt, unter denen sich für jede Gestalt des Stückes der beste, der vollkommene Darsteller fand. Frau Ramlo spielte die Nora, sie blieb die einzige klassische Interpretin dieser Rolle [...] Gegebene Natur und meisterhaftes Können vereinigten sich in dieser Aufführung zu einer Harmonie und Wirkung ohnegleichen.
Ich hatte einen Platz auf der kleinen, mit fünfzig Menschen dick angepfropften Galerie über der Königsloge. Was ich hörte und sah, umklammerte mir das Herz, schnürte mir die Kehle zu, machte mich schwitzen und frieren, machte mich zittern in allen Fibern meines jungen Lebens. Ich fühlte: Da ist ein Neues, da ist ein starker und grandioser Mensch, der Tiefen aufreißt und Höhen zeigt, in Zorn verdammt und doch in Hoffnung begnadigen möchte, Morsches vernichtet und Würdiges erbauen will, die Menschen aufwärts zieht aus Schlamm und Ekel, und für die Zukunft des Lebens klare, reinliche Straßen weist.
Nach dem zweiten Akte – nach der Tarantellaszene neben dem geplünderten Christbaum – stürzte ich aus dem engen schwülen Raum in den Korridor hinaus, setzte mich auf den glatten Boden hin, vergrub das Gesicht in die Hände und brach in Schluchzen aus. Leute standen um mich herum. Keiner lachte, keiner sprach. Und dann pressten sie sich schweigend wieder hinein in diesen engen Theaterkäfig. Einer, ein junger Mensch, beugte sich zu mir herunter und flüsterte: „Es geht wieder an.“ [...]
Und am andern Nachmittag – ein Donnerstag war´s – begann das literarische Gezänk im Caféhaus. Immer wieder hieß es: ein realistischer Photograph, ein unfruchtbarer Regierer; Gestalten, die als Wahrheit beginnen und dann Hohn und Lüge werden; Beleidigung der Gesellschaft; Zynismus gegen die Heiligkeit der Ehe; Nora, diese hysterische Person, die weder Weib noch Mutter ist; und dieser widersinnige Schluss, dieses undramatische Fragezeichen.
Ganz rasend machte mich das. „Seid ihr denn blind? Der? Er ein Realist? Ein Verneiner? Das ist doch einer, der die Menschen l i e b t !“
(Ludwig Ganghofer, Lebenslauf eines Optimisten. Buch der Freiheit, Verlag Adolf Bonz, Stuttgart o. J. (7. Auflage), S. 256ff.)
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Für den Schriftsteller Ludwig Ganghofer (1855-1920), dessen Theaterstück Der Herrgottschnitzer von Oberammergau genau wie Ibsens Nora 1880 in München Premiere hatte, bedeutete das Werk des Kollegen ein überwältigendes einzigartiges Ereignis, das ihn die Fassung verlieren ließ. Er konnte keine Distanz mehr herstellen zwischen sich und dem Theatergeschehen, ließ seinen Emotionen freien Lauf und verteidigte den Menschenliebhaber Ibsen gegen die ungerechtfertigte Kritik der Ignoranten.
Und bald darauf ein unerhörtes, ein Herz und Seele schüttelndes Erlebnis! Die Uraufführung von Ibsens Nora im Residenztheater. Dieses Stück ist niemals wieder auf einer deutschen Bühne besser gespielt worden als damals in München. Das war ein Vollendetes. Und versank. Und wird niemals wiederkommen. Eine glückliche Fügung – das Wort Zufall wäre minderwertig – hatte am Residenztheater eine Schar von Künstlern versammelt, unter denen sich für jede Gestalt des Stückes der beste, der vollkommene Darsteller fand. Frau Ramlo spielte die Nora, sie blieb die einzige klassische Interpretin dieser Rolle [...] Gegebene Natur und meisterhaftes Können vereinigten sich in dieser Aufführung zu einer Harmonie und Wirkung ohnegleichen.
Ich hatte einen Platz auf der kleinen, mit fünfzig Menschen dick angepfropften Galerie über der Königsloge. Was ich hörte und sah, umklammerte mir das Herz, schnürte mir die Kehle zu, machte mich schwitzen und frieren, machte mich zittern in allen Fibern meines jungen Lebens. Ich fühlte: Da ist ein Neues, da ist ein starker und grandioser Mensch, der Tiefen aufreißt und Höhen zeigt, in Zorn verdammt und doch in Hoffnung begnadigen möchte, Morsches vernichtet und Würdiges erbauen will, die Menschen aufwärts zieht aus Schlamm und Ekel, und für die Zukunft des Lebens klare, reinliche Straßen weist.
Nach dem zweiten Akte – nach der Tarantellaszene neben dem geplünderten Christbaum – stürzte ich aus dem engen schwülen Raum in den Korridor hinaus, setzte mich auf den glatten Boden hin, vergrub das Gesicht in die Hände und brach in Schluchzen aus. Leute standen um mich herum. Keiner lachte, keiner sprach. Und dann pressten sie sich schweigend wieder hinein in diesen engen Theaterkäfig. Einer, ein junger Mensch, beugte sich zu mir herunter und flüsterte: „Es geht wieder an.“ [...]
Und am andern Nachmittag – ein Donnerstag war´s – begann das literarische Gezänk im Caféhaus. Immer wieder hieß es: ein realistischer Photograph, ein unfruchtbarer Regierer; Gestalten, die als Wahrheit beginnen und dann Hohn und Lüge werden; Beleidigung der Gesellschaft; Zynismus gegen die Heiligkeit der Ehe; Nora, diese hysterische Person, die weder Weib noch Mutter ist; und dieser widersinnige Schluss, dieses undramatische Fragezeichen.
Ganz rasend machte mich das. „Seid ihr denn blind? Der? Er ein Realist? Ein Verneiner? Das ist doch einer, der die Menschen l i e b t !“
(Ludwig Ganghofer, Lebenslauf eines Optimisten. Buch der Freiheit, Verlag Adolf Bonz, Stuttgart o. J. (7. Auflage), S. 256ff.)