Karl Wolfskehl
Für den Schriftsteller Karl Wolfskehl (1869-1948), der dem Kreis um Stefan George angehörte und in Schwabing einen berühmten Salon führte, war die Begegnung mit dem Werk Ibsens wegweisend. Die Suche nach Echtheit und Wahrheit evozierte bei Wolfskehl eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit, dem eigenen Leben und der eigenen Persönlichkeit.
Von Nietzsche war – es scheint heute kaum glaublich – noch nichts in unsern Provinzwinkel gedrungen, ich selber hab ihn erst 1892 kennen gelernt, und mir gleich die heute bibliophil so köstliche, in jenen Tagen aber noch sehr unvergriffene erste Zarathustra-Ausgabe erstanden. [...] Irgendwie zitterte natürlich die Geistesluft auch von ihm, und sicher ist unserer tiefe, fanatische Stellungnahme zu Ibsens Problemen vorbewusst davon mitbestimmt worden, aber unsere geistige Arbeit, unsere sittliche Idealbildung vollzog sich unter dem unerbittlichen Zwange, ja unter dem Druck des Norwegers. Wahrheit in jedem Sinne wurde oberstes Gebot. Jedes Gefühl musste auf seine Echtheit, seine Unbedingtheit sich prüfen lassen, Einheit und Gleichheit von Wollen und Handeln, von Rede und Vollbringen wurde gefordert, und in oft kindlichem Überschwang, unreif aber rührend, gewährleistet. Es war wie eine fortwährende Rechenschaftsablage vor dem eigenen Bewusstsein und dem Richterspruch der Gefährten: die Selbstbeobachtung, Selbstschau, Selbstprüfung wurde ins Äußerste betrieben (in solcher fast pflichthaften Zwangsform kam sie wohl damals überhaupt erst auf), aber sie hatte nicht das mindeste von genießerischer Selbstbespiegelung an sich, war gar nicht ästhetenhaft oder gar narzisstisch. Sie war durchaus Gebot, nicht im mindesten Wollust. Ob man ein Gefühl, ein inneres Erlebnis, ein Schönheits- oder Liebesempfinden oder eine sittliche oder religiöse Begeisterung tatsächlich empfinde oder aber wirklich anmaße, einrede, einschmuggle, ob das Erlebnis wirklich so stark sei oder künstlich gesteigert, schön gefärbt und aufgeplustert, das hatte man in strenger Selbsterforschung mit sich auszumachen. Denn nichts war verpönter wie die Lüge in jeder Gestalt, besonders die das eigene Ich verdunkelnde oder fälschende oder die dem Ich schmeichelte, es verzärtelte oder betörte. Und wie oft kam es so, dass man an sich zweifeln musste! [...] Man kann sich denken, was uns in diesem Sinne einesteils die Gespenster und andernteils Brand bedeutet haben. Fatum und heldenhaftes Ringen aus nächster Nähe, ohne Historie und Kostüm, mit den Mitteln und Menschen der Zeit, greifbar, unverhüllt und doch ganz und gar typisch ins Große erhoben, fast mythisch geworden. Pastoren, Künstler, Lehrer, Ingenieure, Geschäftsleute aller Art, bürgerliche Welt, Bratenröcke, Joppen, Hausschürzen und Häubchen: das alles war kein Requisit mehr, erforderte nicht Bildung, nicht angelesene Ideale, stand überhaupt nicht in Frage, bedurfte und löste keine Reize, hemmte nicht noch verführte. Schmeichelte uns nicht ans Ungeheure heran, störte auch nicht das wirkliche Aug in Aug. [...] Und das eben war Ibsens ungeheurer Sinn, seine noch gar nicht zu ermessende Bedeutung für den jungen, den ganz jungen Menschen jener Tage.
(Karl Wolfskehl: Ibsen-Jugend. Schüler-Erinnerungen. In: Münchner Neueste Nachrichten, 20. März 1928)
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Für den Schriftsteller Karl Wolfskehl (1869-1948), der dem Kreis um Stefan George angehörte und in Schwabing einen berühmten Salon führte, war die Begegnung mit dem Werk Ibsens wegweisend. Die Suche nach Echtheit und Wahrheit evozierte bei Wolfskehl eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit, dem eigenen Leben und der eigenen Persönlichkeit.
Von Nietzsche war – es scheint heute kaum glaublich – noch nichts in unsern Provinzwinkel gedrungen, ich selber hab ihn erst 1892 kennen gelernt, und mir gleich die heute bibliophil so köstliche, in jenen Tagen aber noch sehr unvergriffene erste Zarathustra-Ausgabe erstanden. [...] Irgendwie zitterte natürlich die Geistesluft auch von ihm, und sicher ist unserer tiefe, fanatische Stellungnahme zu Ibsens Problemen vorbewusst davon mitbestimmt worden, aber unsere geistige Arbeit, unsere sittliche Idealbildung vollzog sich unter dem unerbittlichen Zwange, ja unter dem Druck des Norwegers. Wahrheit in jedem Sinne wurde oberstes Gebot. Jedes Gefühl musste auf seine Echtheit, seine Unbedingtheit sich prüfen lassen, Einheit und Gleichheit von Wollen und Handeln, von Rede und Vollbringen wurde gefordert, und in oft kindlichem Überschwang, unreif aber rührend, gewährleistet. Es war wie eine fortwährende Rechenschaftsablage vor dem eigenen Bewusstsein und dem Richterspruch der Gefährten: die Selbstbeobachtung, Selbstschau, Selbstprüfung wurde ins Äußerste betrieben (in solcher fast pflichthaften Zwangsform kam sie wohl damals überhaupt erst auf), aber sie hatte nicht das mindeste von genießerischer Selbstbespiegelung an sich, war gar nicht ästhetenhaft oder gar narzisstisch. Sie war durchaus Gebot, nicht im mindesten Wollust. Ob man ein Gefühl, ein inneres Erlebnis, ein Schönheits- oder Liebesempfinden oder eine sittliche oder religiöse Begeisterung tatsächlich empfinde oder aber wirklich anmaße, einrede, einschmuggle, ob das Erlebnis wirklich so stark sei oder künstlich gesteigert, schön gefärbt und aufgeplustert, das hatte man in strenger Selbsterforschung mit sich auszumachen. Denn nichts war verpönter wie die Lüge in jeder Gestalt, besonders die das eigene Ich verdunkelnde oder fälschende oder die dem Ich schmeichelte, es verzärtelte oder betörte. Und wie oft kam es so, dass man an sich zweifeln musste! [...] Man kann sich denken, was uns in diesem Sinne einesteils die Gespenster und andernteils Brand bedeutet haben. Fatum und heldenhaftes Ringen aus nächster Nähe, ohne Historie und Kostüm, mit den Mitteln und Menschen der Zeit, greifbar, unverhüllt und doch ganz und gar typisch ins Große erhoben, fast mythisch geworden. Pastoren, Künstler, Lehrer, Ingenieure, Geschäftsleute aller Art, bürgerliche Welt, Bratenröcke, Joppen, Hausschürzen und Häubchen: das alles war kein Requisit mehr, erforderte nicht Bildung, nicht angelesene Ideale, stand überhaupt nicht in Frage, bedurfte und löste keine Reize, hemmte nicht noch verführte. Schmeichelte uns nicht ans Ungeheure heran, störte auch nicht das wirkliche Aug in Aug. [...] Und das eben war Ibsens ungeheurer Sinn, seine noch gar nicht zu ermessende Bedeutung für den jungen, den ganz jungen Menschen jener Tage.
(Karl Wolfskehl: Ibsen-Jugend. Schüler-Erinnerungen. In: Münchner Neueste Nachrichten, 20. März 1928)