Der weiße Kater
Mit seiner weißen Löwenmähne, seiner sorgfältigen Kleidung und seinem stilisierten Äußeren beeindruckte Ibsen seine Umgebung. So auch den Autor und Verleger Ernst Heimeran (1902-1955), der die folgende Anekdote wiedergibt. Heimeran verfasste heitere anekdotische Bücher und gründete 1922 den Ernst Heimeran Verlag. Daneben war er als Journalist für die Münchener Neuesten Nachrichten tätig.
Als Ibsen noch in der großen herrschaftlichen Wohnung in der Amalienstraße zu Hause war, pflegte er seine Briefe selbst in den nahen Kasten zu tragen. Eines Nachmittags im Mai fiel ihm schon von weitem auf, dass sich ein Mädchen am Postschlitz zu schaffen machte; als er näher trat, um auf der anderen Seite seine Schreibsachen einzuwerfen, blickte er in ein angstvolles junges Gesicht, das dem Weinen nahe war.
„Was hat sie denn?“ fragte Ibsen bestürzt. Das Mädchen schaute furchtsam die Straße hinunter. „Ich bin stecken geblieben“, schluchzte sie. „und nun muss gleich die Mutter kommen und wird mich fragen –“ Ibsen trat auf die andere Seite und sah, dass die Hand des Mädchens im Briefkastenschlitz stecken geblieben war, als hätte ein gelbes Raubtier unerwartete zugeschnappt. „Ja wie hat sie denn das gemacht?“ verwunderte sich Ibsen und zog erfolglos am Arm. „Ich habe doch einen Brief geschrieben“, jammerte die Kleine, „und die Mutter darfs nicht wissen; ich wollte ihn ganz tief hineinstecken, ach helfen Sie mir doch!“
„So, so, einen Brief.“ Ibsen bemühte sich nun ebenfalls, durch den Schlitz zu langen. Er war damals anfangs der Sechzig, seine Hand in geistiger Arbeit zergliedert, und es gelang ihm. Er tastete die Hand seines etwas sechzehnjährigen Schützlings ab, der dabei ganz rot wurde.
„Da ist ihr Ring schuld, der hängen bliebt. Mach sie einmal ganz gerade Finger.“ Die Kleine gehorchte und Ibsen streifte ihr mit Mühe den Ring ab. Im selben Augenblick kam sie frei. Ibsen war nun ebenso heiß geworden wie seine Partnerin. Den Ring zwischen den akrobatischen Fingern, mühte er sich, vom Kasten freizuwerden und bot nun seinerseits den Anblick des Festgehaltenen. Endlich gelang es.
„Und weiß sie auch, wer ihr geholfen hat?“ verlangte er, ehe er den Ring herausgab.
Die Kleine zögerte einen Augenblick.
„Ich sag es ganz gewiss, aber zuerst möchte ich gern den Ring haben.“
Ibsen gab ihn erwartungsvoll.
„Der weiße Kater!“ lachte sie und lief davon. Und so erfuhr Ibsen, welchen Spitznamen ihm sein wohlgepflegtes, silbriges Haupt- und Barthaar in Schwabing eingetragen hatte.
(Dr. Ernst Heimeran: Der weiße Kater. Neue Münchner Ibsen-Anekdoten. In: Münchner Neueste Nachrichten, 20. März 1928)
Dr. Ernst Heimeran (1902-1955) war ein deutscher Autor und Verleger. Er schrieb heitere anekdotische Bücher und gründete 1922 den Ernst Heimeran Verlag. Daneben war er als Journalist für die Münchener Neuesten Nachrichten tätig.
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Mit seiner weißen Löwenmähne, seiner sorgfältigen Kleidung und seinem stilisierten Äußeren beeindruckte Ibsen seine Umgebung. So auch den Autor und Verleger Ernst Heimeran (1902-1955), der die folgende Anekdote wiedergibt. Heimeran verfasste heitere anekdotische Bücher und gründete 1922 den Ernst Heimeran Verlag. Daneben war er als Journalist für die Münchener Neuesten Nachrichten tätig.
Als Ibsen noch in der großen herrschaftlichen Wohnung in der Amalienstraße zu Hause war, pflegte er seine Briefe selbst in den nahen Kasten zu tragen. Eines Nachmittags im Mai fiel ihm schon von weitem auf, dass sich ein Mädchen am Postschlitz zu schaffen machte; als er näher trat, um auf der anderen Seite seine Schreibsachen einzuwerfen, blickte er in ein angstvolles junges Gesicht, das dem Weinen nahe war.
„Was hat sie denn?“ fragte Ibsen bestürzt. Das Mädchen schaute furchtsam die Straße hinunter. „Ich bin stecken geblieben“, schluchzte sie. „und nun muss gleich die Mutter kommen und wird mich fragen –“ Ibsen trat auf die andere Seite und sah, dass die Hand des Mädchens im Briefkastenschlitz stecken geblieben war, als hätte ein gelbes Raubtier unerwartete zugeschnappt. „Ja wie hat sie denn das gemacht?“ verwunderte sich Ibsen und zog erfolglos am Arm. „Ich habe doch einen Brief geschrieben“, jammerte die Kleine, „und die Mutter darfs nicht wissen; ich wollte ihn ganz tief hineinstecken, ach helfen Sie mir doch!“
„So, so, einen Brief.“ Ibsen bemühte sich nun ebenfalls, durch den Schlitz zu langen. Er war damals anfangs der Sechzig, seine Hand in geistiger Arbeit zergliedert, und es gelang ihm. Er tastete die Hand seines etwas sechzehnjährigen Schützlings ab, der dabei ganz rot wurde.
„Da ist ihr Ring schuld, der hängen bliebt. Mach sie einmal ganz gerade Finger.“ Die Kleine gehorchte und Ibsen streifte ihr mit Mühe den Ring ab. Im selben Augenblick kam sie frei. Ibsen war nun ebenso heiß geworden wie seine Partnerin. Den Ring zwischen den akrobatischen Fingern, mühte er sich, vom Kasten freizuwerden und bot nun seinerseits den Anblick des Festgehaltenen. Endlich gelang es.
„Und weiß sie auch, wer ihr geholfen hat?“ verlangte er, ehe er den Ring herausgab.
Die Kleine zögerte einen Augenblick.
„Ich sag es ganz gewiss, aber zuerst möchte ich gern den Ring haben.“
Ibsen gab ihn erwartungsvoll.
„Der weiße Kater!“ lachte sie und lief davon. Und so erfuhr Ibsen, welchen Spitznamen ihm sein wohlgepflegtes, silbriges Haupt- und Barthaar in Schwabing eingetragen hatte.
(Dr. Ernst Heimeran: Der weiße Kater. Neue Münchner Ibsen-Anekdoten. In: Münchner Neueste Nachrichten, 20. März 1928)
Dr. Ernst Heimeran (1902-1955) war ein deutscher Autor und Verleger. Er schrieb heitere anekdotische Bücher und gründete 1922 den Ernst Heimeran Verlag. Daneben war er als Journalist für die Münchener Neuesten Nachrichten tätig.