Pfarrhof Aidling

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Pfarrhof in Aidling. © Privatsammlung

Im Kapitel „Geh heim!“ geht der Lehrer ins Dorf, um „einige Formalitäten und die Nahrungsmittelzufuhr“ zu regeln, „denn ohne zu essen kann man nicht exerzieren.“ Hier trifft er den Pfarrer, der ihn zu sich einlädt und auf dem „kürzesten Weg zum Pfarrhaus“ führt.[1] Vorbild für dieses dürfte möglicherweise das Pfarrhaus in Aidling bei Murnau gewesen sein, das wie viele Pfarreien neben der Kirche lag, einem Bauernhof aber ähnelte und von einem Garten, in dem Gemüse und Obst gediehen, umgeben war. Am Ende der Aidlinger Dorfstraße lebten in den 1920er- und 1930er-Jahren Tagelöhner in ärmlichen Hütten.[2] Ähnlich kontrastreich ist die Szenerie in Jugend ohne Gott aufgebaut, wo Pfarrer und Lehrer an der Siedlung der armen Heimarbeiter vorbeikommen, deren Kinder hasserfüllt zu ihnen aufblicken, während das Pfarrhaus neben der Kirche Ruhe, Wachstum und Sauberkeit auf den Lehrer ausstrahlt:

Die grauen Häuser stehen dicht beieinander. An den offenen Fenstern sitzen lauter Kinder mit weißen, alten Gesichtern und bemalen bunte Puppen. Hinter ihnen ist es schwarz. „Sie sparen das Licht“, sagt der Pfarrer und fügt noch hinzu: „Sie grüßen mich nicht, sie sind verhetzt.“ Er beginnt plötzlich schneller zu gehen. Ich gehe gerne mit.

Die Kinder sehen mich groß an, seltsam starr. Nein, das sind keine Fische, das ist kein Hohn, das ist Haß. Und hinter dem Haß sitzt die Trauer in den finsteren Zimmern. Sie sparen das Licht, denn sie haben kein Licht. Das Pfarrhaus liegt neben der Kirche. Die Kirche ist ein strenger Bau, das Pfarrhaus liegt gemächlich da. Um die Kirche herum liegt der Friedhof, um das Pfarrhaus herum ein Garten. Im Kirchturm läuten die Glocken, aus dem Rauchfang des Pfarrhauses steigt blauer Dunst. Im Garten des Todes blühen die weißen Blumen, im Garten des Pfarrers wächst das Gemüse. Dort stehen Kreuze, hier steht ein Gartenzwerg. Und ein ruhendes Reh. Und ein Pilz.

Im Pfarrhaus drinnen ist Sauberkeit. Kein Stäubchen fliegt durch die Luft. Im Friedhof daneben wird alles zu Staub.[3]

Der Pfarrer selbst hat mit dem Pfarrer Karl Bögner (1883-1970), den Horváth vom Stammtisch her kannte, ein reales Vorbild. „In Aidling hält sich bis heute das Gerücht, dass er [Karl Bögner] dorthin ‚strafversetzt‘ worden sei. In seiner vorherigen Pfarrei Gundamsried, wo er seit 1914 gewirkt hatte, wurde behauptet, er ‚sei sehr nachlässig im Religionsunterricht und gebrauche Reden, die auf Mangel an Glauben schließen lassen‘, er ‚betreibe mehr Ökumene‘, ‚lasse alles gehen, wie es geht‘.“[4] Auch der Pfarrer im Roman ist wegen eines nicht näher definierten Vergehens ins Dorf strafversetzt worden und zeigt durch seine Äußerungen über den gegenwärtigen Zustand der Kirche und deren Verhältnis zur Macht seine kritische, wenngleich lebensbejahende Grundeinstellung. Anhand antiker und moderner Philosophie belegt er dem Lehrer, dass der Staat an sich gut ist (weil er gottgewollt sei), nur die staatliche Ordnung als menschliches Produkt könne schlecht sein.

Zusammen mit dem früheren Altphilologen und jetzigen Hausierer Julius Caesar, der wegen einer Affäre mit einer minderjährigen Schülerin vom Dienst suspendiert wurde, und dem 34-jährigen Lehrer bildet er das „Triumvirat der Außenseiter“ im Roman Jugend ohne Gott.[5]



[1] Ebda., S. 42. (Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 13, S. 45.)

[2] Ebda., S. 190.

[3] Ebda., S. 42f. (Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 13, S. 46.)

[4] Ebda., S. 163.

[5] Zu den realen Vorbildern dieser Figuren siehe den Kommentar von Elisabeth Tworek (ebda., S. 162f.).

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik