Hochlandlager und Mädchenschule

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Nachbarhaus Josef Riedl, Nr. 77. © Privatsammlung

Horváth hatte seinen oberbayerischen Wohnort Murnau nach einem Streit mit SA-Lokalgrößen im Frühjahr 1933 verlassen müssen, war aber wiederholt dorthin zurückgekehrt, um Material für Der Lenz ist da!, seine Vorarbeit zum Roman, zu sammeln. Zurück in die elterliche Villa konnte er jedoch nicht mehr; deshalb hielt er sich bis Sommer 1934 im Dachgeschoss des Nachbarhauses Josef Riedl, Nr. 77, auf. Etliche Örtlichkeiten, Ereignisse und Personen aus dieser Zeit lassen sich im Roman Jugend ohne Gott zurückverfolgen.

So waren Anfang 1934 die Vorbereitungen zum Ersten Hochlandlager der Hitlerjugend voll im Gange. Das NS-Lager mit 6000 Buben in 320 Zelten fand vom 4. bis 28. August in der Gegend um Aidling bei Murnau statt. Das Murnauer Tagblatt berichtete über Monate hinweg darüber.[1] Auf dem Spruchband über dem „Thingplatz“ stand in Fraktur: „Wir sind zum Sterben für Deutschland geboren“.

Es erging nämlich die Weisung an alle Mittelschulen, anschließend an das Osterfest die Zeltlager zu beziehen. Unter „Zeltlager“ verstand man eine vormilitärische Ausbildung. Die Schüler mußten klassenweise auf zehn Tage in die sogenannte freie Natur hinaus und dort, wie die Soldaten, in Zelten kampieren, unter Aufsicht des Klassenvorstands. Sie wurden von Unteroffizieren im Ruhestand ausgebildet, mußten exerzieren, marschieren und vom vierzehnten Lebensjahr ab auch schießen. Natürlich waren die Schüler begeistert dabei, und wir Lehrer freuten uns auch, denn auch wir spielen gerne Indianer.[2]

Auch die Mädchen mussten während des Dritten Reiches ihren Dienst am Vaterland leisten (Jungmädelbund, BDM) – in der Nähe von Bad Tölz wurde 1937 schließlich das erste „Mädellager Hochland“ errichtet. In Jugend ohne Gott durchstreifen „etwa zwanzig Mädchen“, militärisch erzogen, das unwegsame Gelände, um das „Verschollenen-Flieger-Suchen“ zu proben. Für die „marschierende Venus“ (Kapitel 9) könnte Horváth durch die wechselvolle Geschichte der Evangelischen Privaten Höheren Mädchenschule des Evangelischen Schulvereins Murnau angeregt worden sein.[3] Im Oktober 1933 wurde dort zusätzlich für 50 Mädchen ein Arbeitsdienstlager aufgebaut mit der Aufgabe, Kleidung und Wäsche für die männlichen Arbeitslager in Ordnung zu halten.

Bevor sie weitermarschieren, erzählt mir die Lehrerin noch, die Mädchen würden heute vormittag den verschollenen Flieger suchen. Wieso, ist einer abgestürzt? Nein, das „Verschollenen-Flieger-Suchen“ sei nur ein neues wehrsportliches Spiel für die weibliche Jugend. Ein großer weißer Karton wird irgendwo im Unterholz versteckt, die Mädchen schwärmen in Schwarmlinie durch das Unterholz und suchen den Karton. „Es ist für den Fall eines Krieges gedacht“, fügt sie noch erläuternd hinzu, „damit wir gleich eingesetzt werden können, wenn einer abgestürzt ist. Im Hinterland natürlich, denn Weiber kommen ja leider nicht an die Front.“

Leider!

Dann ziehen sie weiter in militärischer Ordnung. Ich seh ihnen nach: vom vielen Marschieren wurden die kurzen Beine immer kürzer. Und dicker.

Marschiert nur zu, Mütter der Zukunft![4]



[1] Vgl. hierzu ausführlich Ödön von Horváth: Jugend ohne Gott. Roman. Mit einem Kommentar von Elisabeth Tworek. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, S. 160.

[2] Ebda., S. 31f. (Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 13, S. 34f.)

[3] Ebda., S. 161f.

[4] Ebda., S. 37. (Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 13, S. 40f.)

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik