Kino am Sendlinger Tor

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Sendlingertorhaus mit Eingang zu den Lichtspielen, Fotografie. © Privatsammlung

Im dritten Teil „Herr Reithofer wird selbstlos“ rettet der arbeitslose Kellner Eugen Reithofer Anna Pollinger, indem er dem ehemaligen Büromädchen eine Arbeitsstelle als Schneiderin in Ulm vermittelt. Auch wenn Horváth leicht ironisch den Altruismus Reithofers dessen Eitelkeit zuschreibt, ist dieser doch die einzige Männerfigur des Romans, die aus dem Spießertum heraustritt und solidarisch statt egoistisch denkt und handelt. Und dies, obwohl er von dem „Mistvieh“, wie er Anna Pollinger nach ihrem Geständnis, dass sie eine Prostituierte ist, nennt, betrogen worden ist: „Er [der ältere Herr, der ihm helfen will] weiß ja gar nicht, ob ich am End nicht auch ein Mistvieh bin! Ich bin doch auch eins, meiner Seel!“[1] Anna hat sich nämlich von Herrn Reithofer ungeachtet seiner schlechten wirtschaftlichen Lage ins Kino einladen lassen.

Am Sendlinger-Tor-Platz gehen beide ins dortige Lichtspielhaus.

Die „Sendlingertor-Lichtspiele“ von Carl Gabriel (1896-1928) wurden am 18. Oktober 1913 mit der Aufführung des historischen Dramas Die Herrin des Nils eröffnet. Anlässlich dazu schrieb der Münchner Archivar, Chronist und Dichter Ernst von Destouches: „Das neue 700 Personen fassende Theater ist mit amphitheatralisch ansteigendem Parkett, mit Rang und Galerie, mit eigenen Zugängen, Treppenhaus, splenditer effektvoller Beleuchtung und Warmwasserheizung, kurz allen Neuerungen und Komfort ausgestattet.“

Jetzt gingen sie über den Sendlinger-Tor-Platz. „Und was hat das Fräulein für einen Beruf?“ fragte er. Sie sah ihn forschend an, ob er es bereits erraten hätte, und überraschte sich dabei, daß es ihr peinlich gewesen wär – „Eigentlich hab ich das Nähen gelernt“, sagte sie und ärgerte sich nun über ihr ängstliches Gefühl. Denn die Männer sind feine Halunken, und daran ändert auch ihre Arbeitslosigkeit nichts. Ob wohl dieser feine Arbeitslose drei Mark habe, überlegte sie und stellte ihn auf die Probe: „Ich möcht jetzt gern ins Kino da drüben“, sagte sie.

Dem Herrn Reithofer kam dieser Vorschlag ziemlich unerwartet, denn er besaß nur mehr einen Zehnmarkschein, und es war ihm auch bekannt, daß er als österreichischer Staatsbürger auf eine reichsdeutsche Arbeitslosenunterstützung keinen rechtlichen Anteil habe, und er erinnerte sich, daß er 1915 in Wolhynien einen Kalmücken sterben sah, der genau so starb wie irgendein österreichischer Staatsbürger oder ein Reichsdeutscher. „Ich möcht gern ins Kino“, wiederholte sich Anna und sah ihn mit Fleiß recht verträumt an. Und um den toten Kalmücken zu verscheuchen, dachte er: Auf die zwei Mark kommt's schon auch nicht mehr an, und so freute er sich, daß er ihr die Freude bereiten kann, denn er war ein guter Mensch. „Nur schad, daß der Tom Mix nicht spielt!“ meinte er. Nämlich er liebte diesen Wildwestmann, weil dem immer alles gelingt, aber ganz besonders verliebt war er in dessen treues Pferd. Überhaupt schwärmte er für alle Vieher – so wäre er 1916 fast vor ein Kriegsgericht gekommen, weil er einem russischen Pferdchen, dem ein Granatsplitter zwei Hufe weggerissen, den Gnadenschuß verabreicht und durch diesen Knall seine Kompagnie in ein fürchterliches Kreuzfeuer gebracht hatte. Damals ist sogar ein Generalstabsoffizier gefallen.

Leider sah er also nun im Kino keine Vieher, sondern ein Gesellschaftsdrama, und zwar die Tragödie einer schönen jungen Frau. Das war eine Millionärin, die Tochter eines Millionärs und die Gattin eines Millionärs. Beide Millionäre erfüllten ihr jeden Wunsch, jedoch trotzdem war die Millionärin sehr unglücklich. Man sah, wie sie sich unglücklich stundenlang anzog, maniküren und pediküren ließ, wie sie unglücklich erster Klasse nach Indien fuhr, an der Riviera promenierte, in Baden-Baden lunchte, in Kalifornien einschlief und in Paris erwachte, wie sie unglücklich in der Opernloge saß, im Karneval tanzte und überaus unglücklich den Sekt verschmähte. Und sie wurde immer noch unglücklicher, weil sie sich einem eleganten, jungen Millionärssohn, der sie dezent-sinnlich verehrte, nicht geben wollte. Es blieb ihr also nichts anderes übrig, als ins Wasser zu gehen, was sie dann auch im Ligurischen Meer tat. Man barg ihren unglücklichen Leichnam in Genua, und all ihre Zofen, Lakaien und Schofföre waren sehr unglücklich.

Es war ein sehr tragischer Film und hatte nur eine lustige Episode: Die Millionärin hatte nämlich eine Hilfszofe, und diese Hilfszofe zog sich mal heimlich ein „großes“ Abendkleid ihrer Herrin an und ging mit einem der Schofföre „groß“ aus. Aber der Schofför wußte nicht genau, wie die „große“ Welt Messer und Gabel hält, und die beiden wurden als Bedienstete entlarvt und aus dem vornehmen Lokal gewiesen. Der Schofför bekam von einem der Gäste noch eine tüchtige Ohrfeige, und die Hilfszofe wurde von der unglücklichen Millionärin fristlos entlassen. Die Hilfszofe hat sehr geweint, und der Schofför hat auch nicht gerade ein intelligentes Gesicht geschnitten. Es war sehr lustig. –

Im Kino war es natürlich dunkel, aber der Herr Reithofer näherte sich Anna in keiner Weise, denn so etwas tat er im Kino prinzipiell nie – und als jetzt die Vorstellung beendet war, da war es nun draußen auch schon dunkel. Drinnen hatte sich Anna direkt geborgen gefühlt, denn sie hatte sich vergessen können, aber als sie sich nun eingekeilt zwischen den vielen Fremden hinaus in die rauhe Wirklichkeit zwängte, war sie sich bereits darüber klar, in welcher Weise sie nun dem Herrn Reithofer begegnen sollte. Sie würde ihn einfach vor die Alternative stellen, obwohl er eigentlich ein netter Mann sei, aber das Nette an den Männern ist halt nur eine Kriegslist.

Als sie sich von ihren Plätzen erhoben hatten, ist es dem Herrn Reithofer aufgefallen, daß sie kleiner sei, als er sie in der Erinnerung hatte. Und so dachte er nun, wie wäre es doch edel, wenn er ihr nur väterlich über das Haar streichen, ihr Zuckerln schenken und sagen würde: „Geh ruhig nach Haus, mein liebes Kind!“ Aber wie ist das halt alles unverständlich mit dem Liebesleben in der Natur! Da ist ein starkes Muß, doch steht es dir frei, mit dem Willen dagegen anzukämpfen, sofern du einen Willen hast. Und so sagte er nun: „Kommens, Fräulein, gehen wir noch ein bisserl spazieren, es ist ja eine unwahrscheinlich laue Novembernacht.“ – Aber da trat sie von ihm weg und sagte ihren harten Spruch: „So einfach geht das nicht!“

„Wieso?“ erkundigte er sich harmlos, denn er konnte sich momentan nichts Genaues darunter vorstellen. „Weil das was kostet“, sagte sie und sah recht höhnisch drein, denn es tat ihr gut, wenn sich die Herren ärgerten, und nun wartete sie auf einen Ausbruch.

Aber darauf sollte sie vergebens warten. Zwar hätte sie der Herr Reithofer niemals für eine Solche gehalten, und drum schwieg er nun eine ganze Zeit. „Also eine Solche bist du“, sagte er dann leise und sah sie derart resigniert an, daß es sie gruselte. „Ich bin noch nicht lang dabei“, entfuhr es ihr gegen ihre Absicht. „Das vermut ich“, lächelte er, „aber ich hab halt kein Geld.“ „Dann müssen wir uns halt verabschieden!“ – Jetzt sah er sie wieder so an. „Also ich hab ja keine Verachtung für dich“, meinte er, „aber daß du dich von einem Menschen in meiner wirtschaftlichen Lage ins Kino einladen laßt, das ist eine große Gemeinheit von dir!“ Dann ließ er sie stehen.[2]



[1] Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 12, S. 272.

[2] Ebda., S. 261-264.

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek / Dr. Peter Czoik

Sekundärliteratur:

http://www.filmtheatersendlingertor.de, (28.05.2013).