Altenau
In dem Prosatext Der Stolz Altenaus lenkt Horváth die Spur auf ein ca. 18 Kilometer von Oberammergau entferntes Dorf. „Weder die im Text beschriebene markante Persönlichkeit noch die Historie des Ortes stehen in irgendeiner Weise mit dem wirklichen Altenau in Verbindung.“[1]
Der Marktflecken Altenau liegt in Mitteleuropa, unweit der nördlichen Kalkalpen, 480 Meter hoch über fernem Meere. Man ist sich nicht klar darüber, wann er gegründet worden war, es steht nur fest, daß sich ein rachsüchtiger Kaiser des heiligen römischen Reiches deutscher Nation mit einem hinterlistigen päpstlichen Hausprälaten um das Eigentumsrecht an den Wäldern und Wiesen und Häusern, nicht zu vergessen der Einwohner, einige Jahrzehnte lang gestritten haben.[2]
Der Text scheint eher von der Lektüre des Bayerland-Heftes Murnau und der Staffelsee geprägt zu sein, dem Horváth auch die historischen Fakten entnehmen konnte. Wichtiger erscheint jedoch ein anderer Aspekt:
Der Autor lässt seinen Erzähler, einen Journalisten, mit den historischen Fakten sehr frei umgehen. Dies aber nicht, um den Generaldirektor eines Trusts, dem auch seine Zeitung angehört, einen brutalen Aufsteiger aus dem Mittelstand in einem Jubelartikel als „Stolz Altenaus“ erstrahlen zu lassen, vielmehr um schärfer satirisch, ja sarkastisch herausstreichen zu können, daß Religion nicht nur in der (gegenreformatorischen) Vergangenheit als Deckmantel von Herrschaftsinteressen gedient hat, sondern auch, wie das verlogene Verhalten eines Pfarrers beweist, in der Gegenwart politisch funktionalisiert wird.[3]
Den nahtlosen Übergang zur Gegenwart erreicht Horváth durch die verwandtschaftliche Beziehung der vier getöteten Ketzer mit dem aktuellen Pfarrer des Ortes: „Er ist ein großer Nationalist, Monarchist und verleumdete schon des öfteren die Linke. Er hält fest an der Tradition.“[4] Der „Stolz Altenaus“ ist aber der „Herr Generaldirektor“. So wie der Ort aufgrund des Diebstahls zwielichtig erscheint, so wirkt die Heimattreue des Generaldirektors durch dessen kapitalistische Sorgen nicht weniger unheilvoll:
Ich kannte des Herrn Generaldirektors Heimat Altenau, denn es wurden mir dort mal zehn Mark gestohlen.
„Ich bleib meiner Heimat treu“, sagte der Generaldirektor und verabschiedete sich. Schwere Sorgen umwölkten seine Stirne, enttäuschender Abschluß von nur fünf Prozent Dividende.[5]
Nur mit Ellenbogen hat sich der Generaldirektor „selbst emporgearbeitet“. Der materielle Aufstieg seiner Person und damit des ganzen Marktes ist einer – nicht zuletzt medialen – Lüge geschuldet, das weiß auch der Ich-Erzähler und Journalist („Jeder kann sich emporarbeiten, schrieben wir in den Zeitungen und wußten, daß es nicht stimmt“; „Unsere Zeitung war in einem Trust. Wir hatten vor allem Provinzblätter und logen fürchterlich“). Kirche und Kapital, Heimatliebe und Manipulation der Medien gehen eine unheilige Allianz ein.
[1] Tworek-Müller, Elisabeth (1989): Provinz ist überall, S. 41.
[2] Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 11, S. 155f.
[3] Bartsch, Kurt (2000): Ödön von Horváth, S. 107f.
[4] Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 11, S. 156. Den Pfarrer hat Elisabeth Tworek mit dem Benefiziaten und Chronisten Hansjakob Gebhardt (1883-1953) identifiziert, der nach Aussagen von Zeitgenossinnen Horváths Vorbild gewesen sein soll: „Gebhardt galt in Murnau als sittenstrenger Moralist und sehr traditionsverbunden.“ (Tworek-Müller, Elisabeth [1989]: Provinz ist überall, S. 45)
[5] Ebda., S. 155.
Weitere Kapitel:
In dem Prosatext Der Stolz Altenaus lenkt Horváth die Spur auf ein ca. 18 Kilometer von Oberammergau entferntes Dorf. „Weder die im Text beschriebene markante Persönlichkeit noch die Historie des Ortes stehen in irgendeiner Weise mit dem wirklichen Altenau in Verbindung.“[1]
Der Marktflecken Altenau liegt in Mitteleuropa, unweit der nördlichen Kalkalpen, 480 Meter hoch über fernem Meere. Man ist sich nicht klar darüber, wann er gegründet worden war, es steht nur fest, daß sich ein rachsüchtiger Kaiser des heiligen römischen Reiches deutscher Nation mit einem hinterlistigen päpstlichen Hausprälaten um das Eigentumsrecht an den Wäldern und Wiesen und Häusern, nicht zu vergessen der Einwohner, einige Jahrzehnte lang gestritten haben.[2]
Der Text scheint eher von der Lektüre des Bayerland-Heftes Murnau und der Staffelsee geprägt zu sein, dem Horváth auch die historischen Fakten entnehmen konnte. Wichtiger erscheint jedoch ein anderer Aspekt:
Der Autor lässt seinen Erzähler, einen Journalisten, mit den historischen Fakten sehr frei umgehen. Dies aber nicht, um den Generaldirektor eines Trusts, dem auch seine Zeitung angehört, einen brutalen Aufsteiger aus dem Mittelstand in einem Jubelartikel als „Stolz Altenaus“ erstrahlen zu lassen, vielmehr um schärfer satirisch, ja sarkastisch herausstreichen zu können, daß Religion nicht nur in der (gegenreformatorischen) Vergangenheit als Deckmantel von Herrschaftsinteressen gedient hat, sondern auch, wie das verlogene Verhalten eines Pfarrers beweist, in der Gegenwart politisch funktionalisiert wird.[3]
Den nahtlosen Übergang zur Gegenwart erreicht Horváth durch die verwandtschaftliche Beziehung der vier getöteten Ketzer mit dem aktuellen Pfarrer des Ortes: „Er ist ein großer Nationalist, Monarchist und verleumdete schon des öfteren die Linke. Er hält fest an der Tradition.“[4] Der „Stolz Altenaus“ ist aber der „Herr Generaldirektor“. So wie der Ort aufgrund des Diebstahls zwielichtig erscheint, so wirkt die Heimattreue des Generaldirektors durch dessen kapitalistische Sorgen nicht weniger unheilvoll:
Ich kannte des Herrn Generaldirektors Heimat Altenau, denn es wurden mir dort mal zehn Mark gestohlen.
„Ich bleib meiner Heimat treu“, sagte der Generaldirektor und verabschiedete sich. Schwere Sorgen umwölkten seine Stirne, enttäuschender Abschluß von nur fünf Prozent Dividende.[5]
Nur mit Ellenbogen hat sich der Generaldirektor „selbst emporgearbeitet“. Der materielle Aufstieg seiner Person und damit des ganzen Marktes ist einer – nicht zuletzt medialen – Lüge geschuldet, das weiß auch der Ich-Erzähler und Journalist („Jeder kann sich emporarbeiten, schrieben wir in den Zeitungen und wußten, daß es nicht stimmt“; „Unsere Zeitung war in einem Trust. Wir hatten vor allem Provinzblätter und logen fürchterlich“). Kirche und Kapital, Heimatliebe und Manipulation der Medien gehen eine unheilige Allianz ein.
[1] Tworek-Müller, Elisabeth (1989): Provinz ist überall, S. 41.
[2] Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 11, S. 155f.
[3] Bartsch, Kurt (2000): Ödön von Horváth, S. 107f.
[4] Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 11, S. 156. Den Pfarrer hat Elisabeth Tworek mit dem Benefiziaten und Chronisten Hansjakob Gebhardt (1883-1953) identifiziert, der nach Aussagen von Zeitgenossinnen Horváths Vorbild gewesen sein soll: „Gebhardt galt in Murnau als sittenstrenger Moralist und sehr traditionsverbunden.“ (Tworek-Müller, Elisabeth [1989]: Provinz ist überall, S. 45)
[5] Ebda., S. 155.