Neue Kgl. Anatomie
Neue Königliche Anatomie, rechts Präpariersaal. © Privatsammlung
Die Münchner Anatomie in der Pettenkoferstraße 11 war 1905-1907 von Max Littmann erbaut worden. Außer Hör-, Mikroskopie- und Präpariersälen gab es wie in jeder Anatomie auch Leichenräume, wo die Leichen für längere Zeit haltbar gemacht wurden. An ein solches Institut wendet sich die Hauptfigur des Stücks, Elisabeth, um als letzten Ausweg zu Lebzeiten ihren Körper zu verkaufen, da sie die Geldstrafe von 150 Mark selbst nicht aufbringen kann, die ihr als Verkäuferin ohne Wandergewerbeschein auferlegt worden ist:
Szene Nummer 1
Schauplatz: Vor dem Anatomischen Institut mit Milchglasfenstern.
Elisabeth will es betreten und sieht sich noch einmal fragend um, aber es ist nirgends eine Seele zu sehen.
In der Ferne intoniert ein Orchester den beliebten Trauermarsch von Chopin und nun geht ein junger Schupo (Alfons Klostermeyer) langsam an Elisabeth vorbei und beachtet sie scheinbar kaum.
Es ist Frühling.[1]
Sie gerät an einen taubenfütternden Präparator, der ihr aus Mitleid den benötigten Betrag leiht, bald darauf aber sich getäuscht sieht und Elisabeth der Lüge bezichtigt. Nachdem er herausgefunden hat, dass das Geld statt für den Erwerb eines (in der Tat von ihrer Arbeitgeberin vorfinanzierten) Wandergewerbescheins für die Tilgung ihrer Vorstrafe benutzt worden ist, klagt er Elisabeth des Betrugs an. Ihre Notlüge und das Missverständnis haben für sie neben Gefängnisstrafe und erneuter Arbeitslosigkeit schließlich den Tod zur Folge; der Polizist Alfons Klostermeyer verlässt Elisabeth wegen seiner Polizeikarriere, so dass sie keinen anderen Ausweg als den Freitod sieht.
Bilder des Todes dominieren von Anfang an das Geschehen. Elisabeth ist tot, noch bevor sie sich selber umbringt – in diesem Sinne hat Horváth zurecht die „kleinbürgerliche Komödie“ einen „kleinen Totentanz“ in Annäherung an Strindbergs Schaupiel Ein Totentanz (1905) genannt und damit den auf den ersten Korintherbrief (13,13) anspielenden Titel Glaube Liebe Hoffnung konterkariert: „Jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: das Größte von ihnen ist die Liebe.“ So wie die Liebe sich als Kalkül egoistischer Männer und die Hoffnung letztlich sich als Illusion herausstellen, so bleibt der Glaube an einen liebenden und gnädigen Gott in diesem Stück eine Leerstelle.[2]
[1] Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 6, S. 15. Über die Funktion solcher Schauplätze bei Horváth siehe Gough, Elizabeth (1972): Möblierte Zimmer, stille Straßen. Zur Dramaturgie des Schauplatzes in Ödön von Horváths Stücken. In: Über Ödön von Horváth. Hg. von Dieter Hildebrandt und Traugott Krischke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 107-122, hier 120f.: „Schauplätze auf der Straße vor einem öffentlichen Gebäude dienen vor allem dazu, die Isolierung der Hauptperson deutlich zu machen [...]. Die Wirkung kann durch Details – etwa die ‚blinden‘ Milchglasfenster des Anatomischen Instituts [...] gesteigert werden.“
[2] Vgl. Bartsch, Kurt (2000): Ödön von Horváth, S. 96.
Weitere Kapitel:
Neue Königliche Anatomie, rechts Präpariersaal. © Privatsammlung
Die Münchner Anatomie in der Pettenkoferstraße 11 war 1905-1907 von Max Littmann erbaut worden. Außer Hör-, Mikroskopie- und Präpariersälen gab es wie in jeder Anatomie auch Leichenräume, wo die Leichen für längere Zeit haltbar gemacht wurden. An ein solches Institut wendet sich die Hauptfigur des Stücks, Elisabeth, um als letzten Ausweg zu Lebzeiten ihren Körper zu verkaufen, da sie die Geldstrafe von 150 Mark selbst nicht aufbringen kann, die ihr als Verkäuferin ohne Wandergewerbeschein auferlegt worden ist:
Szene Nummer 1
Schauplatz: Vor dem Anatomischen Institut mit Milchglasfenstern.
Elisabeth will es betreten und sieht sich noch einmal fragend um, aber es ist nirgends eine Seele zu sehen.
In der Ferne intoniert ein Orchester den beliebten Trauermarsch von Chopin und nun geht ein junger Schupo (Alfons Klostermeyer) langsam an Elisabeth vorbei und beachtet sie scheinbar kaum.
Es ist Frühling.[1]
Sie gerät an einen taubenfütternden Präparator, der ihr aus Mitleid den benötigten Betrag leiht, bald darauf aber sich getäuscht sieht und Elisabeth der Lüge bezichtigt. Nachdem er herausgefunden hat, dass das Geld statt für den Erwerb eines (in der Tat von ihrer Arbeitgeberin vorfinanzierten) Wandergewerbescheins für die Tilgung ihrer Vorstrafe benutzt worden ist, klagt er Elisabeth des Betrugs an. Ihre Notlüge und das Missverständnis haben für sie neben Gefängnisstrafe und erneuter Arbeitslosigkeit schließlich den Tod zur Folge; der Polizist Alfons Klostermeyer verlässt Elisabeth wegen seiner Polizeikarriere, so dass sie keinen anderen Ausweg als den Freitod sieht.
Bilder des Todes dominieren von Anfang an das Geschehen. Elisabeth ist tot, noch bevor sie sich selber umbringt – in diesem Sinne hat Horváth zurecht die „kleinbürgerliche Komödie“ einen „kleinen Totentanz“ in Annäherung an Strindbergs Schaupiel Ein Totentanz (1905) genannt und damit den auf den ersten Korintherbrief (13,13) anspielenden Titel Glaube Liebe Hoffnung konterkariert: „Jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei: das Größte von ihnen ist die Liebe.“ So wie die Liebe sich als Kalkül egoistischer Männer und die Hoffnung letztlich sich als Illusion herausstellen, so bleibt der Glaube an einen liebenden und gnädigen Gott in diesem Stück eine Leerstelle.[2]
[1] Ö. v. H.: Gesammelte Werke. Bd. 6, S. 15. Über die Funktion solcher Schauplätze bei Horváth siehe Gough, Elizabeth (1972): Möblierte Zimmer, stille Straßen. Zur Dramaturgie des Schauplatzes in Ödön von Horváths Stücken. In: Über Ödön von Horváth. Hg. von Dieter Hildebrandt und Traugott Krischke. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 107-122, hier 120f.: „Schauplätze auf der Straße vor einem öffentlichen Gebäude dienen vor allem dazu, die Isolierung der Hauptperson deutlich zu machen [...]. Die Wirkung kann durch Details – etwa die ‚blinden‘ Milchglasfenster des Anatomischen Instituts [...] gesteigert werden.“
[2] Vgl. Bartsch, Kurt (2000): Ödön von Horváth, S. 96.