Isarufer
Wir gingen noch spät im Mondschein an die Isar hinunter, standen lange auf der Brücke und sprachen von unserm Leben und von der Kunst.
Jetzt ist es nach Mitternacht, ich bin eben erst heraufgekommen, habe die Fenster weit aufgemacht, Mondlicht und Nacht kommen von draußen herein. Heute hab' ich einen Einblick in das ganze, bewusste Schaffen eines anderen Menschen getan und ringe nun darum, das auch in mir zu finden.
(Ellen Olestjerne in Sämtliche Werke 1, S. 119)
Im August 1893 reist Franziska zu Reventlow zum ersten Mal nach München, um sich dort zur Malerin ausbilden zu lassen. In ihrem autobiografischen Roman Ellen Olestjerne lässt sie ihr Alter Ego schwärmen: „In München – . Ich kann immer noch nicht begreifen, dass es kein Traum ist.“ Die junge Frau fühlt sich frei und unbeobachtet. Sie macht die Erfahrung, dass man gerade dort besonders gut zu sich selbst finden kann, wo viele Menschen leben, und dass sich die Metropolen als Flucht- und Rückzugsorte besser eignen als einsame Landschaften. Im Austausch mit anderen Suchenden hofft sie, ihre Talente entfalten zu können.
Unten an der Isar ging ich entlang, wo Tag und Nacht an den Kanalisationswerken gearbeitet wird. Tag und Nacht. (...) Über die Brücke hört man Studenten singen mit rohen berauschten Stimmen. Liebespaare drücken sich am Quai entlang. Und drüben auf der anderen Seite, wo die neuerbauten hohen Häuser stehen, kommen die Theaterbesucher nach Hause, in Pelzen und hellen Abendmänteln. Einige gähnen und reiben sich die Augen. Es war doch recht anstrengend, so lange dazusitzen.
(Nachtarbeit in Sämtliche Werke 5, S. 66f. Erschienen in: Husumer Nachrichten, Jg. 22, 10.12.1894)
In München werden Franziska zu Reventlow die sozialen Gegensätze innerhalb der wilhelminischen Gesellschaft bewusst – viel stärker als in ihrer norddeutschen Heimat, in der sie als Komtess und später als Gräfin in einem Schutzraum lebte. Unter dem Titel Moment-Aufnahmen veröffentlicht sie 1894 vier Miniaturen, die Hunger, Einsamkeit, Morphiumsucht und Nachtarbeit zum Thema haben. Dabei wirft sie einen kritischen Blick auf die Boheme: Ihrer Ignoranz und Blasiertheit stellt sie in Nachtarbeit das harte Los der Kanalisationsarbeiter gegenüber, die von den nächtlichen Flaneuren als „interessantes Motiv“ betrachtet werden.
Weitere Kapitel:
Wir gingen noch spät im Mondschein an die Isar hinunter, standen lange auf der Brücke und sprachen von unserm Leben und von der Kunst.
Jetzt ist es nach Mitternacht, ich bin eben erst heraufgekommen, habe die Fenster weit aufgemacht, Mondlicht und Nacht kommen von draußen herein. Heute hab' ich einen Einblick in das ganze, bewusste Schaffen eines anderen Menschen getan und ringe nun darum, das auch in mir zu finden.
(Ellen Olestjerne in Sämtliche Werke 1, S. 119)
Im August 1893 reist Franziska zu Reventlow zum ersten Mal nach München, um sich dort zur Malerin ausbilden zu lassen. In ihrem autobiografischen Roman Ellen Olestjerne lässt sie ihr Alter Ego schwärmen: „In München – . Ich kann immer noch nicht begreifen, dass es kein Traum ist.“ Die junge Frau fühlt sich frei und unbeobachtet. Sie macht die Erfahrung, dass man gerade dort besonders gut zu sich selbst finden kann, wo viele Menschen leben, und dass sich die Metropolen als Flucht- und Rückzugsorte besser eignen als einsame Landschaften. Im Austausch mit anderen Suchenden hofft sie, ihre Talente entfalten zu können.
Unten an der Isar ging ich entlang, wo Tag und Nacht an den Kanalisationswerken gearbeitet wird. Tag und Nacht. (...) Über die Brücke hört man Studenten singen mit rohen berauschten Stimmen. Liebespaare drücken sich am Quai entlang. Und drüben auf der anderen Seite, wo die neuerbauten hohen Häuser stehen, kommen die Theaterbesucher nach Hause, in Pelzen und hellen Abendmänteln. Einige gähnen und reiben sich die Augen. Es war doch recht anstrengend, so lange dazusitzen.
(Nachtarbeit in Sämtliche Werke 5, S. 66f. Erschienen in: Husumer Nachrichten, Jg. 22, 10.12.1894)
In München werden Franziska zu Reventlow die sozialen Gegensätze innerhalb der wilhelminischen Gesellschaft bewusst – viel stärker als in ihrer norddeutschen Heimat, in der sie als Komtess und später als Gräfin in einem Schutzraum lebte. Unter dem Titel Moment-Aufnahmen veröffentlicht sie 1894 vier Miniaturen, die Hunger, Einsamkeit, Morphiumsucht und Nachtarbeit zum Thema haben. Dabei wirft sie einen kritischen Blick auf die Boheme: Ihrer Ignoranz und Blasiertheit stellt sie in Nachtarbeit das harte Los der Kanalisationsarbeiter gegenüber, die von den nächtlichen Flaneuren als „interessantes Motiv“ betrachtet werden.