Abnormitäten
Auf dem Oktoberfest gab es immer allerlei Kuriositäten zu bestaunen. Ende des 19. Jahrhunderts gehörte die Darbietung menschlicher Abnormitäten zu den populärsten Schaustellungen auf der Theresienwiese. Carl Gabriel war einer der ersten Großunternehmer im Bereich der Schaustellerei und prägte mit seinen Geschäftsideen auch den Unterhaltungssektor in München. 1926 präsentierte Gabriel auf dem Oktoberfest u.a. das „7. Weltwunder“, die drei dicksten Mädchen der Gegenwart, Elsa, Bertha und Elvira, die zusammen etwa 1200 Pfund wogen. Andere Attraktionen waren „Lionella, das Löwenmädchen“, die tätowierte Dame und eine Stadt in Liliput-Format. Schaustellungen dieser Art waren bis in die 1960er Jahre hinein auf der Wiesn zu sehen.
Lucki, der Baron von Giesing, macht mit seiner Braut Cenzi, der Baronesse von Haidhausen, einen Ausflug auf die Theresienwiese. Der Autor Alois Hönle parodiert mit der Beschreibung der beiden Charaktere das Münchner Vorstadtmilieu der 1920er Jahre.
Mitten in dieses Gespräch platzte der allbekannte Ruf: „Aha, aha, aha, hier ist die Dame ohne Unterleib.“ Kaum haben sich beide der betreffenden Bude zugewandt, kreischt die Cenzi auf: ,Ah da legst di' nieder und schleifst, die Kathi ohne Unterleib, jetzt ziagst aba aus mit dem Theater, sie aa, ohne Unterleib, mit dö vier Mehlhasn dahoam, – den Gloifin da kannst as ja vazähl'n, du Erzschlawinerin! „Ja, tua Dir fei nix o“, naselt die Kathi von ihrem Piedestal herunter, „wenigstens verdean i mir mei Geld ehrli mit'n Oberleib und du kannst in dö Isarauen am Lorum geh, Du broatletschts Abführmittel, Du unappetitlichs.“ Für diesmal ist der Lucki der Hellere, indem er die zu einer weiteren Polemik ausholende Cenzi aus der streitgeschwängerten Atmosphäre hinausbugsiert. In der Nähe nämlich stand ein Grüner! Kommentar überflüssig.
Alois Hönle: Lucki Baron von Giesing, Herr auf Steintrag und Schaufelhamm und seine Braut Baronesse Cenzi von Haidhausen, Edle von Mörtel und Stadelheim. Emil-Stahl Verlag, München 1920
Die Zeltwand spaltete sich weit,
und eine ungeheure Glocke wuchtete
herein. „Emmy, das größte Wunder unsrer Zeit!“
Dort, wo der Hängerock am Halse buchtete,
dort bot sich triefenden Quartanerlüsten
die Lavamasse von alpinen Brüsten,
Die majestätisch auseinanderfloß.
„Emmy, der weibliche Koloß.“
Hilflose Vorderschinken hingen
herunter, die in Würstchen übergingen.
Und als sie langsam wendete: – Oho! –
Da zeigte sich der Vollbegriff Popo
in schweren erzgegoßnen Wolkenmassen.
„Nicht anfassen!“
Und flüchtig unter hochgerafften Segeln
sah man der Oberschenkel Säulenpracht.
Da war es aus. Da wurde gell gelacht.
Ich wußte jeden Witz zu überflegeln,
und jeder Beifall stärkte meinen Schwung.
Die Dicke schwieg. Ich gab die Vorstellung.
Joachim Ringelnatz: Die Riesendame der Oktoberwiese (1928). In: „und auf einmal steht es neben dir“. Gesammelte Gedichte. Henssel Verlag, Berlin 1964
Ausrufer: Meine Damen und Herren! Wir waren dort stehen geblieben, daß Juanita auf dem ganzen Leibe tierisch behaart und daß auch die Anordnung ihrer Organe wie bei einem Tier ist. Trotzdem hat Juanita aber eine äußerst rege Phantasie. So spricht sie perfekt englisch und französisch und das hat sie sich mit zähem Fleiße selbst beigebracht. Und nun wird sich Juanita erlauben, den Herrschaften eine Probe ihrer Naturstimme zu geben! Darf ich bitten – –
Ödön von Horváth: Kasimir und Karoline (1932). Reclam Verlag, Stuttgart 2009
An einem Sonntagnachmittag Ende September machte ich mich in Begleitung von Heinrich Bahr zur Theresienwiese am Ostrand Münchens auf, wo das Oktoberfest stattfand. [...] Als wir uns der Theresienwiese näherten, wurde das Gedränge so dicht, dass wir in unserem Vorwärtskommen behindert und gebremst wurden. Der mächtige Festlärm drang nun zu uns, und ich konnte die verschiedenen Bauten erkennen. Meine erste Empfindung als ich die Wiesn betrat, war maßlose Enttäuschung. Was vor mir und um mich herum zu sehen war, schien einem kleinen, mittelprächtigen Coney Island zu gleichen. Da waren Dutzende von Buden und Hütten voll billiger Puppen, Teddybären, Bonbonhüten, Schießscheiben, etc., samt dem ganzen Brimborium von doppelköpfigen Ungeheuern, Spukhäusern, fetten Damen, Zwergen, Handlesern, Hypnotiseuren und der ganzen ausgeklügelten Maschinerie zur Erzeugung von Schwindelzuständen.
Thomas Wolfe: Oktoberfest (1939). Manesse Verlag, München 2010
Weitere Kapitel:
Auf dem Oktoberfest gab es immer allerlei Kuriositäten zu bestaunen. Ende des 19. Jahrhunderts gehörte die Darbietung menschlicher Abnormitäten zu den populärsten Schaustellungen auf der Theresienwiese. Carl Gabriel war einer der ersten Großunternehmer im Bereich der Schaustellerei und prägte mit seinen Geschäftsideen auch den Unterhaltungssektor in München. 1926 präsentierte Gabriel auf dem Oktoberfest u.a. das „7. Weltwunder“, die drei dicksten Mädchen der Gegenwart, Elsa, Bertha und Elvira, die zusammen etwa 1200 Pfund wogen. Andere Attraktionen waren „Lionella, das Löwenmädchen“, die tätowierte Dame und eine Stadt in Liliput-Format. Schaustellungen dieser Art waren bis in die 1960er Jahre hinein auf der Wiesn zu sehen.
Lucki, der Baron von Giesing, macht mit seiner Braut Cenzi, der Baronesse von Haidhausen, einen Ausflug auf die Theresienwiese. Der Autor Alois Hönle parodiert mit der Beschreibung der beiden Charaktere das Münchner Vorstadtmilieu der 1920er Jahre.
Mitten in dieses Gespräch platzte der allbekannte Ruf: „Aha, aha, aha, hier ist die Dame ohne Unterleib.“ Kaum haben sich beide der betreffenden Bude zugewandt, kreischt die Cenzi auf: ,Ah da legst di' nieder und schleifst, die Kathi ohne Unterleib, jetzt ziagst aba aus mit dem Theater, sie aa, ohne Unterleib, mit dö vier Mehlhasn dahoam, – den Gloifin da kannst as ja vazähl'n, du Erzschlawinerin! „Ja, tua Dir fei nix o“, naselt die Kathi von ihrem Piedestal herunter, „wenigstens verdean i mir mei Geld ehrli mit'n Oberleib und du kannst in dö Isarauen am Lorum geh, Du broatletschts Abführmittel, Du unappetitlichs.“ Für diesmal ist der Lucki der Hellere, indem er die zu einer weiteren Polemik ausholende Cenzi aus der streitgeschwängerten Atmosphäre hinausbugsiert. In der Nähe nämlich stand ein Grüner! Kommentar überflüssig.
Alois Hönle: Lucki Baron von Giesing, Herr auf Steintrag und Schaufelhamm und seine Braut Baronesse Cenzi von Haidhausen, Edle von Mörtel und Stadelheim. Emil-Stahl Verlag, München 1920
Die Zeltwand spaltete sich weit,
und eine ungeheure Glocke wuchtete
herein. „Emmy, das größte Wunder unsrer Zeit!“
Dort, wo der Hängerock am Halse buchtete,
dort bot sich triefenden Quartanerlüsten
die Lavamasse von alpinen Brüsten,
Die majestätisch auseinanderfloß.
„Emmy, der weibliche Koloß.“
Hilflose Vorderschinken hingen
herunter, die in Würstchen übergingen.
Und als sie langsam wendete: – Oho! –
Da zeigte sich der Vollbegriff Popo
in schweren erzgegoßnen Wolkenmassen.
„Nicht anfassen!“
Und flüchtig unter hochgerafften Segeln
sah man der Oberschenkel Säulenpracht.
Da war es aus. Da wurde gell gelacht.
Ich wußte jeden Witz zu überflegeln,
und jeder Beifall stärkte meinen Schwung.
Die Dicke schwieg. Ich gab die Vorstellung.
Joachim Ringelnatz: Die Riesendame der Oktoberwiese (1928). In: „und auf einmal steht es neben dir“. Gesammelte Gedichte. Henssel Verlag, Berlin 1964
Ausrufer: Meine Damen und Herren! Wir waren dort stehen geblieben, daß Juanita auf dem ganzen Leibe tierisch behaart und daß auch die Anordnung ihrer Organe wie bei einem Tier ist. Trotzdem hat Juanita aber eine äußerst rege Phantasie. So spricht sie perfekt englisch und französisch und das hat sie sich mit zähem Fleiße selbst beigebracht. Und nun wird sich Juanita erlauben, den Herrschaften eine Probe ihrer Naturstimme zu geben! Darf ich bitten – –
Ödön von Horváth: Kasimir und Karoline (1932). Reclam Verlag, Stuttgart 2009
An einem Sonntagnachmittag Ende September machte ich mich in Begleitung von Heinrich Bahr zur Theresienwiese am Ostrand Münchens auf, wo das Oktoberfest stattfand. [...] Als wir uns der Theresienwiese näherten, wurde das Gedränge so dicht, dass wir in unserem Vorwärtskommen behindert und gebremst wurden. Der mächtige Festlärm drang nun zu uns, und ich konnte die verschiedenen Bauten erkennen. Meine erste Empfindung als ich die Wiesn betrat, war maßlose Enttäuschung. Was vor mir und um mich herum zu sehen war, schien einem kleinen, mittelprächtigen Coney Island zu gleichen. Da waren Dutzende von Buden und Hütten voll billiger Puppen, Teddybären, Bonbonhüten, Schießscheiben, etc., samt dem ganzen Brimborium von doppelköpfigen Ungeheuern, Spukhäusern, fetten Damen, Zwergen, Handlesern, Hypnotiseuren und der ganzen ausgeklügelten Maschinerie zur Erzeugung von Schwindelzuständen.
Thomas Wolfe: Oktoberfest (1939). Manesse Verlag, München 2010