Ödön von Horváth über München II

Am Abend bevor Kobler zur Weltausstellung fuhr, betrat er nochmals sein Stammlokal in der Schellingstraße, das war ein Café-Restaurant und nannte sich „Schelling-Salon“. Er betrat es, um zu imponieren, und bestellte sich einen Schweinsbraten mit gemischtem Salat. „Sonst noch was?“, fragte die Kellnerin. „Ich fahre nach Barcelona“, sagte er. „Geh, wer wird denn so blöd sein!“, meinte sie und ließ ihn sitzen ... Da kam sie, das Fräulein Anna Pollinger ... Mitte September saß sie also neben Kobler im Schelling-Salon und bestellte sich lediglich ein kleines, dunkles Bier. Ihr Abendbrot, zwei Buttersemmeln, hatte sie bereits in der Kraftwagenvermietung zu sich genommen, denn sie hatte dort an diesem Tag ausnahmsweise bis abends neun Uhr zu tun. Sie musste dies durchschnittlich vier Mal wöchentlich tun. Für diese Überstunden bekam sie natürlich nichts bezahlt, denn sie hatte ja das Recht, jeden Ersten zu kündigen, wenn sie arbeitslos werden wollte. „Gib mir was von deinem Kartoffelsalat“, sagte sie plötzlich, denn plötzlich musste sie noch etwas verzehren. „Bitte“, meinte Kobler, und es war ihm unvermittelt, als müsste er sich eigentlich schämen, dass er nach Barcelona fährt. „Es wird sehr anstrengend werden“, sagte er. „Dann wird es also heut nacht nichts“, fragte sie. „Nein“, sagte er.

Ödön von Horváth, Sechsunddreißig Stunden, 1930 (Zit. aus: Ödön von Horváth: Sechsunddreißig Stunden. In: Ödön von Horváth: Der ewige Spießer. Frankfurt a. Main 1987, S. 107f.)

 

Ödön von Horváth (1901-1938), österreichisch-ungarischer Schriftsteller; Aufenthalt in München: 1913 bis 1916 und 1919 bis 1922

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek