Rainer Maria Rilke über München V

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Der Monopteros von Südwesten, 1918 (Monacensia München)

Wenn das Klima Münchens der Konservierung der Bilder günstig ist, so ist es den Künstlern selber noch viel günstiger. Nicht in dem Sinne, dass man imstande wäre, schnupfenfrei in einen Winter und wieder herauszukommen, sondern dass man, solange man nicht so erkältet ist, dass man durch die Augen nicht mehr zu schauen vermag, Stimmungen in der Natur sieht, Beleuchtungseffekte und Wolkengebilde, welche an Pracht und Abenteuerlichkeit die leuchtenden Landschaften der venezianischen Hochrenaissance weit übertreffen. Die breiten und zum Verzweifeln langen Straßen, die mit alten Bäumen bestandenen Plätze und die elenden Droschken, die alle Dimensionen noch größer erscheinen lassen, sind dieser Luftperspektive nicht weniger förderlich als der Englische Garten mit seinen blassen Wiesen und den weißen Kieswegen, die in so müßiger Ruhe bald an der anderen Seite des blanken Baches hinleiten und nichts zu versäumen haben. Der Park erstreckt sich stundenlang bis gegen Schleißheim, und es kann leicht geschehen, dass man dort den Abend erwartet. Dann hebt sich der kleine Säulentempel, Monopteros genannt, als Silhouette scharf von den matten Tönen der nebligen Luft ab, und weit über den Wiesen ist die Stadt, dunkel und dämmernd, und ihr Wahrzeichen, die Türme der Frauenkirche, ragen hoch empor vor dem Goldgrund des Abends ... Etwas Leichtes und Befreiendes kommt über Pinsel und Federn, ein heiteres Pleinair schmiegt sich um alle Gedanken und Wünsche, etwas, was sich ausprägt in dem steten Festefeiern des Volkes und in dem Teilnehmen aller an diesen Festfreuden.

Rainer Maria Rilke, Auch ein Münchner Brief, 1897 (Zit. aus: Rainer Maria Rilke: Auch ein Münchner Brief. In: Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Hg. v. Rilke-Archiv. In Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke besorgt durch Ernst Zinn. Bd. 5, S. 328-334. Erstdruck: Bohemia Nr. 258. Prag 17.9.1897)

 

Rainer Maria Rilke (1875-1926), österreichischer Dichter; Aufenthalt in München: zwischen 1896 und 1919

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek