Rainer Maria Rilke über München II

München, Ainmillerstraße 34 am 7. November 1918

Liebe Klara,

in den letzten Tagen hat München etwas von seiner Leere und Ruhe aufgegeben, die Spannungen des Augen­blicks machen sich auch hier bemerklich, wenngleich sie zwischen den bajuwarischen Temperamenten sich nicht gerade geistig benehmen. Überall große Versammlungen in den Brauhaussälen, fast jeden Abend, überall Redner, unter denen in erster Reihe Professor Jaffé sich hervor­tut, und wo die Säle nicht ausreichen, Versammlungen unter freiem Himmel nach Tausenden. Unter Tausenden auch war ich Montag Abend in den Sälen des Hotel Wagner, Professor Max Weber aus Heidelberg, National­ökonom, der als einer der besten Köpfe und als guter Redner gilt, sprach, nach ihm in der Diskussion der anarchistisch überangestrengte Mühsam und weiter Studen­ten, Leute, die vier Jahre an der Front gewesen waren – alle so einfach und offen und volkstümlich. Und obwohl man um die Biertische und zwischen den Tischen so saß, dass die Kellnerinnen nur wie Holzwürmer durch die dicke Menschenstruktur sich durchfraßen – wars gar nicht beklemmend, nicht einmal für den Atem; der Dunst aus Bier und Rauch und Volk ging einem nicht unbequem ein, man gewahrte ihn kaum, so wichtig wars und so über alles gegenwärtig klar, dass die Dinge gesagt werden konnten, die endlich an der Reihe sind, und dass die einfachsten und gültigsten von diesen Dingen, soweit sie einigermaßen aufnehmlich gegeben waren, von der ungeheueren Menge mit einem schweren massiver Beifall begriffen wurden.

Rainer Maria Rilke an Clara Rilke, 7. November 1918 (Zit. aus: Rainer Maria Rilke: Briefe in zwei Bänden. Erster Band 1896 bis 1919. Hg. v. Horst Nalewski. Frankfurt a. Main, S. 685)

 

Meine liebe Anni Mewes,

gestern hatte Eisner eine Versammlung einberufen in ein Brauhaus an der Theresienwiese, der Saal erwies sich als zu klein, und so versammelte man sich unter dem Nacht­himmel an sieben Tausend –; dort soll, wird erzählt, auch Bruno Frank gesprochen haben. Jeder von uns steht ja nun gewiss bei denen, die die ehrlichsten und gründlichs­ten Veränderungen wollen; doch zweifle ich, dass sie so spät und gegen so obstinate Hemmnisse noch leise durch­zusetzen sein werden; brechen sie heftig ein, so kommt zu allen Zerstörungen eine neue dazu, die gerade uns manches zerbrechen wird. Die Kunst ist immer die Versprecherin der fernsten, mindestens übernächsten Zukunft, und darum wird eine Menge, die leidenschaftlich nach der nächsten greift, immer bilderstürmerisch gesinnt sein. Die Macht des ganz Künftigen sieht, für den ungeübten und erhitzten Blick, der Autorität der Vergangenheit zum Verwechseln ähnlich!

Rainer Maria Rilke, Briefe zur Politik, November 1918 (Zit. aus: Joachim W. Storck (Hg.): Rainer Maria Rilke. Briefe zur Politik. Frankfurt a. Main, Leipzig 1992, S. 226)

 

Rainer Maria Rilke (1875-1926), österreichischer Dichter; Aufenthalt in München: zwischen 1896 und 1919

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek