Kuno Raeber über München
Schwabing ist auferstanden, nicht aber seine mit Klatsch, Amouren und Intrigen gewürzte Beschaulichkeit. Klatsch, Amouren und Intrigen gibt es zwar ebenfalls wieder, aber sie spielen vor einem anderen Hintergrund, die Salons und Stammtische sind zwar noch da, aber sie wirken eher historisch, man pflegt sie aus Pietät gegenüber den Gesellschaftsformen der Vergangenheit: Der Ort, wo sich die Münchner Literaten heute treffen, ist die Party. Partys werden immer, überall und von allen Leuten veranstaltet. Sogar der ärmste Lyriker hält es für seine Schuldigkeit, fünfzig Mitliteraten in sein winziges Apartment zusammenzudrängen, sie mit billigem Rotwein zu tränken, nur schon, damit sie seiner Theorie über die Motorik der Sprache, die er schon zum hundertsten Male entwickelt und die, zu seiner Verzweiflung, trotzdem niemand versteht, nicht entrinnen können. Sie entrinnen dennoch, indem sie einfach alle selber reden, wild durcheinander, am Boden sitzend, lachend, trinkend, rauchend. ...
Zuweilen geht Schwabing in sich, erkennt die Eitelkeit seines Rummels, ja, die Literaten fühlen sich verpflichtet, ihre kritische Distanz zur nächsten Umgebung kundzutun, dann heißt es etwa plötzlich auf allen Partys, an allen Stammtischen: Schwabing ist tot, hier gibt es nur noch Winkelliteraten, wer auf sich hält, geht nach Berlin ... Wer nicht seine Absicht kundtut, gleichfalls baldigst nach Berlin zu ziehen (dort ist etwas los, dort stehen wir im Winde der Geschichte), der wird scheel angesehen und des Spießertums, ja des Konservativismus verdächtigt.
Kuno Raeber, Literaten in München, 1966 (Zit. aus: Kuno Raeber: Literaten in München. Auszug aus dem unveröffentlichten Typoskript. 29.3. 1966. Schweizerisches Literaturarchiv Bern)
Kuno Raeber (1922-1992), Schweizer Schriftsteller; Aufenthalt in München: ab 1958
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Schwabing ist auferstanden, nicht aber seine mit Klatsch, Amouren und Intrigen gewürzte Beschaulichkeit. Klatsch, Amouren und Intrigen gibt es zwar ebenfalls wieder, aber sie spielen vor einem anderen Hintergrund, die Salons und Stammtische sind zwar noch da, aber sie wirken eher historisch, man pflegt sie aus Pietät gegenüber den Gesellschaftsformen der Vergangenheit: Der Ort, wo sich die Münchner Literaten heute treffen, ist die Party. Partys werden immer, überall und von allen Leuten veranstaltet. Sogar der ärmste Lyriker hält es für seine Schuldigkeit, fünfzig Mitliteraten in sein winziges Apartment zusammenzudrängen, sie mit billigem Rotwein zu tränken, nur schon, damit sie seiner Theorie über die Motorik der Sprache, die er schon zum hundertsten Male entwickelt und die, zu seiner Verzweiflung, trotzdem niemand versteht, nicht entrinnen können. Sie entrinnen dennoch, indem sie einfach alle selber reden, wild durcheinander, am Boden sitzend, lachend, trinkend, rauchend. ...
Zuweilen geht Schwabing in sich, erkennt die Eitelkeit seines Rummels, ja, die Literaten fühlen sich verpflichtet, ihre kritische Distanz zur nächsten Umgebung kundzutun, dann heißt es etwa plötzlich auf allen Partys, an allen Stammtischen: Schwabing ist tot, hier gibt es nur noch Winkelliteraten, wer auf sich hält, geht nach Berlin ... Wer nicht seine Absicht kundtut, gleichfalls baldigst nach Berlin zu ziehen (dort ist etwas los, dort stehen wir im Winde der Geschichte), der wird scheel angesehen und des Spießertums, ja des Konservativismus verdächtigt.
Kuno Raeber, Literaten in München, 1966 (Zit. aus: Kuno Raeber: Literaten in München. Auszug aus dem unveröffentlichten Typoskript. 29.3. 1966. Schweizerisches Literaturarchiv Bern)
Kuno Raeber (1922-1992), Schweizer Schriftsteller; Aufenthalt in München: ab 1958