René Prévot über München
Was hätte mir besser angestanden, als bei Vater Fürmann Pensionsgast zu werden? Man kann sich heute keinen Begriff mehr von dem Zauber des Milieus machen. Das moderne Boarding-Haus ist eine Art Pension mit Isolierplatten; man meint, nur so ließe sich der Individualismus im Zusammenwohnen retten. Bei Fürmann gab es nur Individualisten – aber ohne Isolierplatten. Freilich durfte man kein Eigenbrötler sein, man musste die Neigung in sich haben, Mitmensch zu sein. Die zwei Paradezimmer, die ich bezog, hatte vor mir keine Geringere als Ricarda Huch innegehabt. Als „Pensionsprotz Nummer I“ blickte ich durch fünf Fenster nach drei Himmelsrichtungen. Diese Aussicht plus Fliederduft berauschender Mainächte, plus dreimaliger Tagesmahlzeit, plus unzähliger Tanzfeste einschließlich Bowle, plus Samstagnachmittags-Tanzcafé mit Kuchen, zu dem man auch noch Bekannte einladen durfte, kostete ... nun, was kostete dies Fürmann-Glück? Neunzig Mark im Monat. Man konnte es noch billiger haben, allerdings dann etwas beschränkter. Der baumlange Karikaturist Engert, der die winzige sogenannte Asbestbude bewohnte, in der er bestenfalls in der Diagonale ausgestreckt liegen konnte, zahlte nur fünfundfünfzig Mark, alles inbegriffen ... Handwerker brauchte Fürmann nicht, und wenn er einen wollte, requirierte er sich einen geeigneten Pensionsgast. In dieser Beziehung befehligte er uns mit der Selbstverständlichkeit eines Stammeshäuptlings. So sah man mich eines Tages als Dachdecker am First des Hauses sitzen.
René Prévot, Kleiner Schwarm für Schwabylon, 1954 (Zit. aus: René Prévot: Kleiner Schwärm für Schwabylon. München 1954, S. 98)
René Prévot (1880-1955), elsässischer Schriftsteller und Journalist; Aufenthalt in München: 1902 bis 1955
Weitere Kapitel:
Was hätte mir besser angestanden, als bei Vater Fürmann Pensionsgast zu werden? Man kann sich heute keinen Begriff mehr von dem Zauber des Milieus machen. Das moderne Boarding-Haus ist eine Art Pension mit Isolierplatten; man meint, nur so ließe sich der Individualismus im Zusammenwohnen retten. Bei Fürmann gab es nur Individualisten – aber ohne Isolierplatten. Freilich durfte man kein Eigenbrötler sein, man musste die Neigung in sich haben, Mitmensch zu sein. Die zwei Paradezimmer, die ich bezog, hatte vor mir keine Geringere als Ricarda Huch innegehabt. Als „Pensionsprotz Nummer I“ blickte ich durch fünf Fenster nach drei Himmelsrichtungen. Diese Aussicht plus Fliederduft berauschender Mainächte, plus dreimaliger Tagesmahlzeit, plus unzähliger Tanzfeste einschließlich Bowle, plus Samstagnachmittags-Tanzcafé mit Kuchen, zu dem man auch noch Bekannte einladen durfte, kostete ... nun, was kostete dies Fürmann-Glück? Neunzig Mark im Monat. Man konnte es noch billiger haben, allerdings dann etwas beschränkter. Der baumlange Karikaturist Engert, der die winzige sogenannte Asbestbude bewohnte, in der er bestenfalls in der Diagonale ausgestreckt liegen konnte, zahlte nur fünfundfünfzig Mark, alles inbegriffen ... Handwerker brauchte Fürmann nicht, und wenn er einen wollte, requirierte er sich einen geeigneten Pensionsgast. In dieser Beziehung befehligte er uns mit der Selbstverständlichkeit eines Stammeshäuptlings. So sah man mich eines Tages als Dachdecker am First des Hauses sitzen.
René Prévot, Kleiner Schwarm für Schwabylon, 1954 (Zit. aus: René Prévot: Kleiner Schwärm für Schwabylon. München 1954, S. 98)
René Prévot (1880-1955), elsässischer Schriftsteller und Journalist; Aufenthalt in München: 1902 bis 1955