Imre Kertész über München

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Zugang zur S-Bahn am Marienplatz in den 1990er Jahren (Monacensia München)

Als ich in Leipzig das Flugzeug besteige, herrschen, wie gesagt, blendender Sonnenschein und stürmischer Wind, in München aber erwarten mich Nebel und heftiges Schneetreiben. Trotz des unfreundlichen Wetters steige ich am Marienplatz aus der S-Bahn; mein geheimnisvoller Leipziger Gastgeber, der sich nie zu erkennen gegeben hat, ließ mir zwar ein ausgiebiges Frühstück bereitstellen, und auch im Flugzeug gab es eine Kleinigkeit, doch setze ich mich in München gleich in ein Restaurant, genieße es, meine Rechnung zu bezahlen, kaufe in einem Geschäft etwas ein, stöbere in den Regalen, überlasse mich Münchens nüchternem Kapitalismus, seiner Attraktivität, seinen – zumindest oberflächlich – transparenten Verhältnissen, wie einer, der nach einer langen Reise plötzlich wieder zu Hause ist. Habe ich auf diesen Satz zufällig einmal gesagt, München sei nicht schön? München ist wunderbar.

Imre Kertész, Ich – ein anderer, 1998 (Zit. aus: Imre Kertesz: Ich – ein anderer. Berlin 1998)

 

Imre Kertész (geb. 1929), ungarischer Schriftsteller; Aufenthalt in München: 1992

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek