Jean Giraudoux über München

München lag unter dem Schnee verborgen, und es war dunkel. Doch ich erkannte es, unsichtbar, geruchlos und stumm, an jenen Zeichen, die für die Städte merkwürdi­ger sind als ihre Hauptstraße, ihre Bavaria oder ihre Feuerwehr: an der Art, wie die Straßenbahnschaffner ihren Speichel verwenden, um die Fahrscheine zu vertei­len, oder wie sie verhindern, dass der Handgriff der Klingelleine an die Stirne der Fahrgäste stößt, an der Marke auf der Plattform, an der die Kinder gemessen werden – wenn sie größer sind, müssen sie den vollen Fahrpreis be­zahlen – an einem bestimmten Wechsel der Fahrgäste: Jeder Platz, den ein Arbeiter verließ, wurde zu dieser Stunde und auf dieser Strecke von warm vermummten Frauen wieder eingenommen, die die Sängerinnen des Hoftheaters waren ... Große Damen mit starkem Brust­kasten, das heißt, Koloratursoprane, kleine dicke Män­ner, Tenöre also, der riesige Buckel, der am besten Italie­nisch sang: Sicher spielte man den göttlichen Mozart. An der Endhaltestelle der Bahn, an der Haltestelle, die darü­ber hinaus das Ende aller Straßenbahnen und Eisenbahnen der Welt sein müsste, genau am Fuße eines Ge­bäudes, in dem man die Zauberflöte gab, stieg ich aus.

Jean Giraudoux, Wiedersehen mit München, 1920 (Zit. aus: Jean Giraudoux: Wiedersehen mit München (1920). In: Wilhelm Zentner (Hg.): Gastfreundliches München. Das Antlitz einer Stadt im Spiegel ihrer Gäste. München 1947, S. 238f.)

 

Meine Anhänglichkeit an München verursachte mir übri­gens gerade an den Stellen den geringsten Schmerz, wo ich ihrer bewusst war, und ich entdeckte zum ersten Mal die für mich wirklich neuralgischen Punkte dieser großen Stadt. Es waren keineswegs, wie ich mir das vor fünfzehn Jahren eingebildet hatte, die Glyptothek oder die Alte Pinakothek, ganz zu schweigen von der Neuen, auch dicht die Wohnung, in der ich Lenbach beim Malen, oder das Theater, in dem ich Hildebrand bei der Bildhauerei zugesehen hatte; es waren vielmehr, gleichsam verschont geblieben in einer Stadt in Asche, die mittelalterliche Post, wo ich meine postlagernden Briefe in Empfang genommen hatte, der Obelisk, von wo aus die Bayern eines Donnerstags mit Napoleon nach Russland gezogen sind und von wo aus ich jeden Sonntag mit Martha nach Schleißheim wanderte, das große Kaufhaus Tietz, wo ich übrigens niemanden gekannt und immer wieder die Parfümerie aufgesucht hatte, die genau in der Mitte lag und über eine weiß der Himmel wie schwierige, unveränderliche Marschroute zu erreichen war, die vielleicht, so teuer ist sie mir noch heute, irgendeinem  unterirdischen Magneten folgte. An bestimmten Straßenecken boten die Schaufenster, einem Souvenir gleich, mein Spiegelbild dar, fast das gleiche Spiegelbild... Eine Porzellanvase, die mir einst im Schaufenster bei Koeller aufgefallen war, hatte noch einen Käufer gefunden.

Jean Giraudoux, Siegfried oder Die zwei Leben des Jacques Forestier, 1920 (Zit. aus: Jean Giraudoux: Siegfried oder Die zwei Leben des Jacques Forestier. Berlin, Frankfurt a. Main, Wien  1962, S. 69)

 

Jean Giraudoux (1882-1944), französischer Dichter; Aufenthalt in München: 1905, 1906 und 1914

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek