Fasching, Feten, Varieté
Die Lust an der Selbstinszenierung, am Theatralischen und Spiel ist dem bayerisch-barocken Menschen eigen. Ihm wird nachgesagt, er bewältige Teile seiner widerspenstigen Wirklichkeit weniger, indem er ihren Zusammenhang erkennt, sondern indem er ihn darstellt. Verspieltheit und Prunk spendeten besonders nach den Verheerungen im 17. Jahrhundert Trost und Balsam. Um 1634 starb in München etwa die Hälfte der 20 000 Einwohner an der Pest. Rund 900 Dörfer und Städte wurden in Bayern am Ende des Dreißigjährigen Krieges zerstört.
Doch die Überlebenden hatten erfahren, dass man mit Traurigkeit nicht weit kommt: Die Schäffler wagten sich als Erste wieder auf die Straßen Münchens und ermutigten mit ihrem Tanz ihre Mitbürger, ihnen wieder ins normale Leben zurückzufolgen; die Oberammergauer gelobten, hinfort alle zehn Jahre die Tragödie vom Sterben Christi aufzuführen; und in den fernsten Winkern Bayerns entstanden prachtvolle Barockkirchen. Optimismus und Zuversicht bezogen die Menschen aus ihrem Glauben. Das Kirchenjahr prägte ihren Alltag. Vor der Fastenzeit kam der Fasching.
Für den Fasching 1775 bestellte Kurfürst Max Joseph bei Wolfgang Amadeus Mozart eine komische Oper, die unter dem Titel Die Gärtnerin aus Liebe im Redoutensaal aufgeführt wurde, während sich Vater Leopold Mozart und Sohn auf Karnevalbällen die Zeit vertrieben. Dort trafen sich Höflinge, Handwerker, Beamte und Bürger gleichermaßen zu Musik und Tanz. Viele dieser Bälle und Redouten fanden bei den Weinwirten statt. Sie hatten das Privileg, Spielleute zum Aufspielen und zu Tanzveranstaltungen zu engagieren. Im Fasching 1828 wurde das „Odeon“ als neuer Festsaal mit einem Hofball eröffnet. Dort fand ein Jahr später das erste Künstler-Maskenfest statt. Um 1900 gewann der Münchner Fasching durch die Mitwirkung der Schwabinger Künstler eine neue Dimension. Sie brachten aus ihrer Heimat vielgestaltige Bräuche mit, die sich mit den hiesigen Traditionen zu etwas Neuem mischten. Dazu gehörten die legendären Atelierfeste, deren ungezügelte Ausgelassenheit der schüchterne Schweizer Schriftsteller Robert Walser sehr zu genießen wusste. 1891 wurden die ersten Redouten mit originellem Maskentreiben veranstaltet. Die „Schwabinger Brauerei“ entwickelte sich zu einer Hochburg des Faschings, wo 1895 erstmals die „Schwabinger Bauernkirchweih“ gefeiert wurde. Nur Besucher in echten Trachten durften den Saal betreten. Die Schwabinger Bohemiènne Franziska zu Reventlow erzählt im Roman Ellen Olestjerne, wie es Leuten ohne nötigem Kleingeld erging.
Links: Der Dichter und Conferencier Fred Endrikat, 1932. Rechts: Maskenzug Motto „Medizinmann“, 1897 (Monacensia München).
Das prunkvolle „Deutsche Theater“, das über elegante Gesellschaftsräume verfügte, wurde eine weitere Hochburg des Münchner Faschings. 1920 bot der damalige Besitzer Hans Gruß dem lebenshungrigen Münchner Publikum Varieté-Programme mit weltberühmten Spitzenkräften: Charlie Rivel, Enrico Rastelli, Grock, Anna Pawlowa oder Josephine Baker standen hier auf der Bühne. Als traumhaft dekorierter Ballsaal im Fasching, als Varietébühne für Artisten, Clowns und Komödianten, als Tempel der heiteren Muse für Operette und Lustspiel und als seriöse Schauspielbühne war das Deutsche Theater ein fester Bestandteil des Amüsierbetriebs in München.
Eigentlich feierte die Schwabinger Bohème mit ihren privaten Salons, Gesellschaften und Bacchus-Festen voll Heiterkeit und Verrücktheit das ganze Jahr Fasching. Am Aschermittwoch ist dann für vierzig Tage der Spaß vorbei – außer in München, wo nach dem Fasching zuerst noch die 17 Tage dauernde Starkbierzeit beginnt. 1634 hatten Paulaner-Mönche auf dem Nockherberg erstmals das Starkbier gebraut. Mit Flüssigem durften sie sich während der Fastenzeit stärken. So entstand ein Doppelbock mit 7,5 Prozent Alkoholgehalt, dem mit großer Leidenschaft noch heute zugesprochen wird, wenn Kabarettisten und Schauspieler auf der Nockherberg-Bühne nach Herzenslust Politiker imitieren und „derbleckn“.
Links: Bauernkirchweih, um 1910 (Verlag und Bildarchiv Sebastian Winkler). Mitte: Ödön von Horváth mit Freunden im Fasching, 1928 (Monacensia München). Rechts: Maskenzug Motto „Nordpolfahrt“, 1897 (Monacensia München).
Mit den Vorstädten entstanden neue Formen der Unterhaltung und Selbstinszenierung. In nur fünfzig Jahren wuchs München zwischen 1849 und 1900 von knapp neunzig auf eine halbe Million Einwohner. In den inzwischen eingemeindeten Dörfern Giesing, Au, Haidhausen und Ramersdorf schössen Mietkasernen und Herbergen aus dem Boden, aber auch Elendsviertel mit notdürftig zusammengezimmerten Hütten und Häusern. Ihre Bewohner hatten nur einen Wunsch: durch Unterhaltung dem Elend zu entfliehen. In den Vorstadttheatern, meist einfache Bretterbuden, wurde auf die Bühne gebracht, was dem einfachen Volk gefiel. Es traten Volkssänger auf und erzählten von Lust und Leid in der Fremde, sie verliehen den ledigen, jungen Burschen, die in Massen vom Land in die Stadt gekommen waren, um dort ihr Glück zu versuchen, eine Stimme. Aus der Musik der Volkssänger entwickelte sich das Selbstwertgefühl der jungen Städter.
Einer von ihnen war der Komiker, Filmpionier und Schauspieler Karl Valentin. Der überragende Sprachakrobat war den Fallstricken des Daseins auf der Spur, Situationskomik und Grimassenziehen waren ihm dabei nur Mittel zum Zweck. Für den Schriftsteller Oskar Maria Graf war Valentin der „münchnerischste aller Münchner“, der mit geradezu genialischer Präzision die letzten Tiefen und Feinheiten des spezifisch Münchnerischen aufspürte. Sein großes Talent erkannten Berühmtheiten wie Bert Brecht, Lion Feuchtwanger, Hermann Hesse und Samuel Beckett. Im März 1937 kam es in Valentins „Panoptikum“, einer Mischung aus Gruselkabinett und Schaustellerei, zu einem Zusammentreffen zwischen den beiden Exponenten des absurden Theaters. Als Samuel Beckett den Gruselkeller betrat, begrüßte ihn Valentin mit dem „Winterzahnstocher“ in der Hand. Das fand Beckett „crazy“.
Sekundärliteratur:
Tworek, Elisabeth (2008): „… und dazwischen ein schöner Rausch“. Dichter und Künstler aus aller Welt in München. Mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 215-219.
Weitere Kapitel:
Die Lust an der Selbstinszenierung, am Theatralischen und Spiel ist dem bayerisch-barocken Menschen eigen. Ihm wird nachgesagt, er bewältige Teile seiner widerspenstigen Wirklichkeit weniger, indem er ihren Zusammenhang erkennt, sondern indem er ihn darstellt. Verspieltheit und Prunk spendeten besonders nach den Verheerungen im 17. Jahrhundert Trost und Balsam. Um 1634 starb in München etwa die Hälfte der 20 000 Einwohner an der Pest. Rund 900 Dörfer und Städte wurden in Bayern am Ende des Dreißigjährigen Krieges zerstört.
Doch die Überlebenden hatten erfahren, dass man mit Traurigkeit nicht weit kommt: Die Schäffler wagten sich als Erste wieder auf die Straßen Münchens und ermutigten mit ihrem Tanz ihre Mitbürger, ihnen wieder ins normale Leben zurückzufolgen; die Oberammergauer gelobten, hinfort alle zehn Jahre die Tragödie vom Sterben Christi aufzuführen; und in den fernsten Winkern Bayerns entstanden prachtvolle Barockkirchen. Optimismus und Zuversicht bezogen die Menschen aus ihrem Glauben. Das Kirchenjahr prägte ihren Alltag. Vor der Fastenzeit kam der Fasching.
Für den Fasching 1775 bestellte Kurfürst Max Joseph bei Wolfgang Amadeus Mozart eine komische Oper, die unter dem Titel Die Gärtnerin aus Liebe im Redoutensaal aufgeführt wurde, während sich Vater Leopold Mozart und Sohn auf Karnevalbällen die Zeit vertrieben. Dort trafen sich Höflinge, Handwerker, Beamte und Bürger gleichermaßen zu Musik und Tanz. Viele dieser Bälle und Redouten fanden bei den Weinwirten statt. Sie hatten das Privileg, Spielleute zum Aufspielen und zu Tanzveranstaltungen zu engagieren. Im Fasching 1828 wurde das „Odeon“ als neuer Festsaal mit einem Hofball eröffnet. Dort fand ein Jahr später das erste Künstler-Maskenfest statt. Um 1900 gewann der Münchner Fasching durch die Mitwirkung der Schwabinger Künstler eine neue Dimension. Sie brachten aus ihrer Heimat vielgestaltige Bräuche mit, die sich mit den hiesigen Traditionen zu etwas Neuem mischten. Dazu gehörten die legendären Atelierfeste, deren ungezügelte Ausgelassenheit der schüchterne Schweizer Schriftsteller Robert Walser sehr zu genießen wusste. 1891 wurden die ersten Redouten mit originellem Maskentreiben veranstaltet. Die „Schwabinger Brauerei“ entwickelte sich zu einer Hochburg des Faschings, wo 1895 erstmals die „Schwabinger Bauernkirchweih“ gefeiert wurde. Nur Besucher in echten Trachten durften den Saal betreten. Die Schwabinger Bohemiènne Franziska zu Reventlow erzählt im Roman Ellen Olestjerne, wie es Leuten ohne nötigem Kleingeld erging.
Links: Der Dichter und Conferencier Fred Endrikat, 1932. Rechts: Maskenzug Motto „Medizinmann“, 1897 (Monacensia München).
Das prunkvolle „Deutsche Theater“, das über elegante Gesellschaftsräume verfügte, wurde eine weitere Hochburg des Münchner Faschings. 1920 bot der damalige Besitzer Hans Gruß dem lebenshungrigen Münchner Publikum Varieté-Programme mit weltberühmten Spitzenkräften: Charlie Rivel, Enrico Rastelli, Grock, Anna Pawlowa oder Josephine Baker standen hier auf der Bühne. Als traumhaft dekorierter Ballsaal im Fasching, als Varietébühne für Artisten, Clowns und Komödianten, als Tempel der heiteren Muse für Operette und Lustspiel und als seriöse Schauspielbühne war das Deutsche Theater ein fester Bestandteil des Amüsierbetriebs in München.
Eigentlich feierte die Schwabinger Bohème mit ihren privaten Salons, Gesellschaften und Bacchus-Festen voll Heiterkeit und Verrücktheit das ganze Jahr Fasching. Am Aschermittwoch ist dann für vierzig Tage der Spaß vorbei – außer in München, wo nach dem Fasching zuerst noch die 17 Tage dauernde Starkbierzeit beginnt. 1634 hatten Paulaner-Mönche auf dem Nockherberg erstmals das Starkbier gebraut. Mit Flüssigem durften sie sich während der Fastenzeit stärken. So entstand ein Doppelbock mit 7,5 Prozent Alkoholgehalt, dem mit großer Leidenschaft noch heute zugesprochen wird, wenn Kabarettisten und Schauspieler auf der Nockherberg-Bühne nach Herzenslust Politiker imitieren und „derbleckn“.
Links: Bauernkirchweih, um 1910 (Verlag und Bildarchiv Sebastian Winkler). Mitte: Ödön von Horváth mit Freunden im Fasching, 1928 (Monacensia München). Rechts: Maskenzug Motto „Nordpolfahrt“, 1897 (Monacensia München).
Mit den Vorstädten entstanden neue Formen der Unterhaltung und Selbstinszenierung. In nur fünfzig Jahren wuchs München zwischen 1849 und 1900 von knapp neunzig auf eine halbe Million Einwohner. In den inzwischen eingemeindeten Dörfern Giesing, Au, Haidhausen und Ramersdorf schössen Mietkasernen und Herbergen aus dem Boden, aber auch Elendsviertel mit notdürftig zusammengezimmerten Hütten und Häusern. Ihre Bewohner hatten nur einen Wunsch: durch Unterhaltung dem Elend zu entfliehen. In den Vorstadttheatern, meist einfache Bretterbuden, wurde auf die Bühne gebracht, was dem einfachen Volk gefiel. Es traten Volkssänger auf und erzählten von Lust und Leid in der Fremde, sie verliehen den ledigen, jungen Burschen, die in Massen vom Land in die Stadt gekommen waren, um dort ihr Glück zu versuchen, eine Stimme. Aus der Musik der Volkssänger entwickelte sich das Selbstwertgefühl der jungen Städter.
Einer von ihnen war der Komiker, Filmpionier und Schauspieler Karl Valentin. Der überragende Sprachakrobat war den Fallstricken des Daseins auf der Spur, Situationskomik und Grimassenziehen waren ihm dabei nur Mittel zum Zweck. Für den Schriftsteller Oskar Maria Graf war Valentin der „münchnerischste aller Münchner“, der mit geradezu genialischer Präzision die letzten Tiefen und Feinheiten des spezifisch Münchnerischen aufspürte. Sein großes Talent erkannten Berühmtheiten wie Bert Brecht, Lion Feuchtwanger, Hermann Hesse und Samuel Beckett. Im März 1937 kam es in Valentins „Panoptikum“, einer Mischung aus Gruselkabinett und Schaustellerei, zu einem Zusammentreffen zwischen den beiden Exponenten des absurden Theaters. Als Samuel Beckett den Gruselkeller betrat, begrüßte ihn Valentin mit dem „Winterzahnstocher“ in der Hand. Das fand Beckett „crazy“.
Tworek, Elisabeth (2008): „… und dazwischen ein schöner Rausch“. Dichter und Künstler aus aller Welt in München. Mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 215-219.