Rechts und links der Isar
Das Lebensgefühl in München hing ganz entscheidend davon ab, ob man von rechts oder links der Isar stammte. Jeder Stadtteil hat seine einzigartige, historisch gewachsene Ausstrahlung. Die Bauerndörfer entlang der Isar, die später zu Vorstädten wurden, sind größtenteils älter als München und oft bereits im 8. und 9. Jahrhundert beurkundet. Am rechten Ufer dehnte sich zwischen den Dörfern Haidhausen und Giesing die Au aus. Zwei Hauptbrücken verbanden sie mit München. Der Chronist Adolph von Schaden hatte 1835 den Eindruck, dass „die Einwohner der Au zu den ärmeren, zuweilen zu der ärmsten Klasse unserer Gesamtbevölkerung gehören; es sind meistens Maurer, Zimmerleute, andere kleine Handwerker, Wäscher und unzählige Tagelöhner. Diese Leute führen eine eigene Lebensweise. Im Sommer findet die aufgehende Sonne sie alle schon auf den Beinen; die meisten der Familienväter ziehen nun mit ihren Frauen und größeren Kindern in die Stadt, um dort für Taglohn bis abends zu arbeiten.“
1854 wurden Au, Haidhausen und Giesing mit ihren 21 000 Einwohnern in die bürgerlich geprägte Residenzstadt München eingemeindet, die auf der anderen Seite der Isar lag. Die Mischung aus bäuerlichem Dorf und weltgewandter Hauptstadt macht bis heute das besondere Flair Münchens aus. Loben Reisende wie der dänische Dichter Hans Christian Andersen das „Isar-Athen“, haben sie die von König Ludwig I. angelegten antikisierenden Plätze, Straßen und Bauten vor Augen, ein „modernes“ München also, das erst im 19. Jahrhundert entstand. Diese einzigartige Kulisse aus Gebäuden, die man eher in Rom oder Florenz vermuten würde, gleicht nach Meinung des italienischen Schriftstellers Giorgio Manganelli einem Bühnenbild, in dem sich die Münchner wie Schauspieler sicher bewegen. Sobald sich der erste Sonnenstrahl zeigt, zieht es sie ins Freie, etwa auf die Stufen der Glyptothek oder in die Hofgartencafés, wo sie unter blauem Himmel das „süße Nichtstun“ genießen. Die vielen Straßencafés entlang der Maximilian- und Leopoldstraße mit quirligem, buntem Publikum nähren zudem die Illusion, dass München die nördlichste Stadt Italiens sei.
Links: An der Tankstelle, 1950er Jahre. Mitte: Am Kiosk, 1950er Jahre. Rechts: Tankstelle, 1960 (Verlag und Bildarchiv Sebastian Winkler).
Die Isar fügt die rechte und linke Uferseite Münchens wie Kitt zusammen und verbindet verschiedenste Stadtteile miteinander: Obersendung, Harlaching, Thalkirchen, Sendung, Isarvorstadt, Au, Lehel, Haidhausen, Schwabing, Bogenhausen, Oberföhring. In früheren Zeiten rauschte der Gebirgsfluss aus dem Karwendel an München vorbei, weil man ihm mit gutem Grund misstraute.
Seit den Eingemeindungen von 1854 fließt die Isar mitten durch die Stadt. Nun begann man innerhalb des Stadtbereichs, den in zwei Arme gespaltenen Fluss – die „große“ und die „kleine“ Isar – zur wirtschaftlichen Nutzung in ein künstliches steinernes Bett zu zwängen. Innerhalb der Pupplinger Au im Süden der Stadt durfte sich der Fluss noch austoben, doch nördlich davon begann die Zähmung. Das raubte der Isar zwar den einstigen Charme als wilder Gebirgsfluss, das grün schimmernde Wasser blieb ihr aber gottlob erhalten. Die Tönung des Wassers verdankt sie einer Mixtur aus Steinmehl, Algenwuchs und bestimmten Lichtreflexionen. Für Samuel Beckett war die in ihr Betonbett gezwängte Isar 1937 „ein Pipi-Flüsschen“. Erst vor wenigen Jahren begann die Stadt damit, sich ihr bestes Stück Natur in ihrem Herzen zurückzuholen und das Bett der Isar in eine voralpine und ungezähmte Gebirgsflusslandschaft zurückzuverwandeln.
Für jeden ist in dieser „Oase der Glückseligkeit ohne Eintrittsbillets“ etwas dabei. An heißen Sommerwochenenden kommen Zigtausende Menschen, um gemeinsam zu grillen, im Wasser zu plantschen, Boot zu fahren oder nackt in der Sonne zu liegen. Kolonnen von Familien radeln mit vollen Picknickkörben die Uferwege entlang. Spaziergänger durchstreifen die neuerdings blumenreichen Wiesen, und Jogger rennen auf den bewaldeten Hochwasserdämmen. Die Isar gehört allen.
Links: Im Kaffeehaus, 1930 (Verlag und Bildarchiv Sebastian Winkler). Mitte: Fassade zur Maximilian- und Stollbergstraße, 1960er Jahre (Monacensia München). Rechts: Erste Mietshäuser an der Tengstraße mit Blick durch die Georgenstraße (Stadtarchiv München).
Besonders bei Föhn treibt es die Münchner hinaus ins Freie. Dann ist die Luft glasklar und die Zugspitze zum Greifen nahe, so dass man einzelne Felsvorsprünge zu fassen glaubt. Die Temperatur kann dann innerhalb von wenigen Stunden bis zu 13 Grad steigen, die Luftfeuchtigkeit von neunzig auf dreißig Grad fallen. Der Münchner Himmel ist dann strahlend blau, am Firmament hängen wie Wattebällchen weiße Federwolken, die Farben gewinnen an Intensität und Leuchtkraft und das Idyll wäre perfekt, würde der Föhn nicht viele Menschen mit heftigen Kopfschmerzen plagen. Der Schriftsteller Carl Amery nannte diese Stimmung einmal „den weißblauen Prunk-Baldachin der Selbstzufriedenheit“.
Das Lebensgefühl in München ist ganz entscheidend von dieser geografischen Lage geprägt. Die Berge locken die Münchner besonders an Wochenenden aufs Land hinaus, im Sommer zum Bergsteigen, im Winter zum Skifahren und Langlaufen. In nur gut einer Stunde ist man mit dem Auto in den Bergen, in Kufstein, Füssen oder Garmisch. Es verwundert deshalb nicht, dass 39 Prozent der Münchner bei einer repräsentativen Umfrage der Zeitschrift Geo im Jahr 2003 angaben, dass die Nähe zu den Alpen einer der größten Vorzüge Münchens ist. Aber auch das vielfältige Angebot an Theatern, Museen, Kinos, Konzertsälen und Opern wissen die Münchner zu schätzen. Immerhin 37 Prozent gaben an, dass sie wegen des kulturellen Angebots München als Wohnort wählten, gefolgt von 31 Prozent, die wegen der Nähe zu Starnberger- und Ammersee gerne in München leben.
Die Mischung aus Alpen und Föhn, Dorf und Metropole, Freizeit und Kultur, Tradition und Moderne macht wohl das besondere Lebensgefühl Münchens aus. Der schwedische Regisseur Ingmar Bergman nannte es das „unerhört vitale Kulturklima“, womit aber bestimmt nur teilweise zu erklären ist, warum so mancher nur in der Isarmetropole und nirgendwo sonst leben will.
Sekundärliteratur:
Tworek, Elisabeth (2008): „… und dazwischen ein schöner Rausch“. Dichter und Künstler aus aller Welt in München. Mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 135-139.
Weitere Kapitel:
Das Lebensgefühl in München hing ganz entscheidend davon ab, ob man von rechts oder links der Isar stammte. Jeder Stadtteil hat seine einzigartige, historisch gewachsene Ausstrahlung. Die Bauerndörfer entlang der Isar, die später zu Vorstädten wurden, sind größtenteils älter als München und oft bereits im 8. und 9. Jahrhundert beurkundet. Am rechten Ufer dehnte sich zwischen den Dörfern Haidhausen und Giesing die Au aus. Zwei Hauptbrücken verbanden sie mit München. Der Chronist Adolph von Schaden hatte 1835 den Eindruck, dass „die Einwohner der Au zu den ärmeren, zuweilen zu der ärmsten Klasse unserer Gesamtbevölkerung gehören; es sind meistens Maurer, Zimmerleute, andere kleine Handwerker, Wäscher und unzählige Tagelöhner. Diese Leute führen eine eigene Lebensweise. Im Sommer findet die aufgehende Sonne sie alle schon auf den Beinen; die meisten der Familienväter ziehen nun mit ihren Frauen und größeren Kindern in die Stadt, um dort für Taglohn bis abends zu arbeiten.“
1854 wurden Au, Haidhausen und Giesing mit ihren 21 000 Einwohnern in die bürgerlich geprägte Residenzstadt München eingemeindet, die auf der anderen Seite der Isar lag. Die Mischung aus bäuerlichem Dorf und weltgewandter Hauptstadt macht bis heute das besondere Flair Münchens aus. Loben Reisende wie der dänische Dichter Hans Christian Andersen das „Isar-Athen“, haben sie die von König Ludwig I. angelegten antikisierenden Plätze, Straßen und Bauten vor Augen, ein „modernes“ München also, das erst im 19. Jahrhundert entstand. Diese einzigartige Kulisse aus Gebäuden, die man eher in Rom oder Florenz vermuten würde, gleicht nach Meinung des italienischen Schriftstellers Giorgio Manganelli einem Bühnenbild, in dem sich die Münchner wie Schauspieler sicher bewegen. Sobald sich der erste Sonnenstrahl zeigt, zieht es sie ins Freie, etwa auf die Stufen der Glyptothek oder in die Hofgartencafés, wo sie unter blauem Himmel das „süße Nichtstun“ genießen. Die vielen Straßencafés entlang der Maximilian- und Leopoldstraße mit quirligem, buntem Publikum nähren zudem die Illusion, dass München die nördlichste Stadt Italiens sei.
Links: An der Tankstelle, 1950er Jahre. Mitte: Am Kiosk, 1950er Jahre. Rechts: Tankstelle, 1960 (Verlag und Bildarchiv Sebastian Winkler).
Die Isar fügt die rechte und linke Uferseite Münchens wie Kitt zusammen und verbindet verschiedenste Stadtteile miteinander: Obersendung, Harlaching, Thalkirchen, Sendung, Isarvorstadt, Au, Lehel, Haidhausen, Schwabing, Bogenhausen, Oberföhring. In früheren Zeiten rauschte der Gebirgsfluss aus dem Karwendel an München vorbei, weil man ihm mit gutem Grund misstraute.
Seit den Eingemeindungen von 1854 fließt die Isar mitten durch die Stadt. Nun begann man innerhalb des Stadtbereichs, den in zwei Arme gespaltenen Fluss – die „große“ und die „kleine“ Isar – zur wirtschaftlichen Nutzung in ein künstliches steinernes Bett zu zwängen. Innerhalb der Pupplinger Au im Süden der Stadt durfte sich der Fluss noch austoben, doch nördlich davon begann die Zähmung. Das raubte der Isar zwar den einstigen Charme als wilder Gebirgsfluss, das grün schimmernde Wasser blieb ihr aber gottlob erhalten. Die Tönung des Wassers verdankt sie einer Mixtur aus Steinmehl, Algenwuchs und bestimmten Lichtreflexionen. Für Samuel Beckett war die in ihr Betonbett gezwängte Isar 1937 „ein Pipi-Flüsschen“. Erst vor wenigen Jahren begann die Stadt damit, sich ihr bestes Stück Natur in ihrem Herzen zurückzuholen und das Bett der Isar in eine voralpine und ungezähmte Gebirgsflusslandschaft zurückzuverwandeln.
Für jeden ist in dieser „Oase der Glückseligkeit ohne Eintrittsbillets“ etwas dabei. An heißen Sommerwochenenden kommen Zigtausende Menschen, um gemeinsam zu grillen, im Wasser zu plantschen, Boot zu fahren oder nackt in der Sonne zu liegen. Kolonnen von Familien radeln mit vollen Picknickkörben die Uferwege entlang. Spaziergänger durchstreifen die neuerdings blumenreichen Wiesen, und Jogger rennen auf den bewaldeten Hochwasserdämmen. Die Isar gehört allen.
Links: Im Kaffeehaus, 1930 (Verlag und Bildarchiv Sebastian Winkler). Mitte: Fassade zur Maximilian- und Stollbergstraße, 1960er Jahre (Monacensia München). Rechts: Erste Mietshäuser an der Tengstraße mit Blick durch die Georgenstraße (Stadtarchiv München).
Besonders bei Föhn treibt es die Münchner hinaus ins Freie. Dann ist die Luft glasklar und die Zugspitze zum Greifen nahe, so dass man einzelne Felsvorsprünge zu fassen glaubt. Die Temperatur kann dann innerhalb von wenigen Stunden bis zu 13 Grad steigen, die Luftfeuchtigkeit von neunzig auf dreißig Grad fallen. Der Münchner Himmel ist dann strahlend blau, am Firmament hängen wie Wattebällchen weiße Federwolken, die Farben gewinnen an Intensität und Leuchtkraft und das Idyll wäre perfekt, würde der Föhn nicht viele Menschen mit heftigen Kopfschmerzen plagen. Der Schriftsteller Carl Amery nannte diese Stimmung einmal „den weißblauen Prunk-Baldachin der Selbstzufriedenheit“.
Das Lebensgefühl in München ist ganz entscheidend von dieser geografischen Lage geprägt. Die Berge locken die Münchner besonders an Wochenenden aufs Land hinaus, im Sommer zum Bergsteigen, im Winter zum Skifahren und Langlaufen. In nur gut einer Stunde ist man mit dem Auto in den Bergen, in Kufstein, Füssen oder Garmisch. Es verwundert deshalb nicht, dass 39 Prozent der Münchner bei einer repräsentativen Umfrage der Zeitschrift Geo im Jahr 2003 angaben, dass die Nähe zu den Alpen einer der größten Vorzüge Münchens ist. Aber auch das vielfältige Angebot an Theatern, Museen, Kinos, Konzertsälen und Opern wissen die Münchner zu schätzen. Immerhin 37 Prozent gaben an, dass sie wegen des kulturellen Angebots München als Wohnort wählten, gefolgt von 31 Prozent, die wegen der Nähe zu Starnberger- und Ammersee gerne in München leben.
Die Mischung aus Alpen und Föhn, Dorf und Metropole, Freizeit und Kultur, Tradition und Moderne macht wohl das besondere Lebensgefühl Münchens aus. Der schwedische Regisseur Ingmar Bergman nannte es das „unerhört vitale Kulturklima“, womit aber bestimmt nur teilweise zu erklären ist, warum so mancher nur in der Isarmetropole und nirgendwo sonst leben will.
Tworek, Elisabeth (2008): „… und dazwischen ein schöner Rausch“. Dichter und Künstler aus aller Welt in München. Mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 135-139.