Vom Erblühen der Künste

München – das war noch bis Ende des 18. Jahrhunderts hinein die gemütliche, altbayerische Bauernstadt, wo sommers die Heuwägen über meist schlecht befestigte Straßen holperten und am „Grünen Baum“ an der Isar die Flöße anlegten; wo auf dem Marienplatz Marktweiber aus dem Umland Kartoffeln und Rüben feilboten und vor allen Wirtshäusern die Botenfuhrwerke standen. Erst im 19. Jahrhundert bekam München das großstädtische, an Italien erinnernde Gesicht, das bis heute Besucher aus aller Welt ins Schwärmen bringt.

Allein zwischen 1805 und 1834 verdoppelte sich die Einwohnerzahl von 45 000 auf knapp 90 000 Einwohner. Gleichzeitig wurde aus der Stadt ein bedeutendes Zentrum für Kunst und Kultur. Die Entscheidung Napoleons, Bayern 1806 zu einem Königreich aufsteigen zu lassen, nutzte nach Maximilian I. (reg. 1799-1825) vor allem sein Sohn Ludwig I. (reg. 1825-1848). Er verwandelte die Hauptstadt des Königreichs in nur wenigen Jahrzehnten in ein „Athen des Nordens“. Noch als Kronprinz ließ er von Leo von Klenze mit der Glyptothek ein Antikenmuseum errichten, das den Besucher mit griechischen und römischen Skulpturen erfreute. Die umfangreichen Wittelsbacher Gemäldesammlungen mit über 8500 Werken und 281 Meisterwerken der Porzellankunst erhielten mit dem Bau der Alten und Neuen Pinakothek angemessene Präsentationsbauten. Der schier unüberschaubare Zuwachs von mehr als 200 000 kostbaren Büchern und Handschriften aus den infolge der Säkularisation zwangsenteigneten Klöstern bekam mit der neuen Staatsbibliothek an der Ludwigstraße ein zweckmäßiges Domizil.

Der Aufstieg Münchens zur Stadt der Künste und Wissenschaften ging mit der Berufung berühmter Wissenschaftler und Gelehrten einher. 1806 nahm der 31-jährige Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling seine Lehrtätigkeit in München auf. Zu ihm strömten die jungen Philosophen aus ganz Europa. Schelling hielt zur Eröffnung der Kunstakademie im Mai 1808 die Festrede. Mit der späteren Berufung der in Rom tätigen Maler Peter Cornelius, Julius Schnorr von Carolsfeld und Heinrich Maria von Hess eroberte die Akademie europäischen Rang.

Links: Zuschauerraum des Cuvilliés-Theaters vor der Zerstörung (Monacensia München). Rechts: Alte Pinakothek, um 1930 (Verlag und Bildarchiv Sebastian Winkler).

Mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nahmen immer mehr Bürger am öffentlichen Musikgeschehen teil. Seit 1777 waren die Hofkonzerte öffentlich zugänglich. Ab 1793 wurden im Redoutensaal an der Prannerstraße „Liebhaberkonzerte“ veranstaltet. Nach dem Abriss des baufälligen Salvatortheaters wurde 1811/12 das „Theater am Isartor“ gegründet, wo bis 1825 Volksstücke, Possen und Singspiele zur Aufführung kamen. Bereits als Kronprinz ließ Ludwig I. 1811 nach Abbruch des Franziskanerklosters am Südende der Residenz den Grundstein zum „Kgl. Hof- und Nationaltheater“ legen. Im Oktober 1818 wurde es eröffnet, brannte aber bereits nach vier Jahren bis auf die Grundmauern nieder. Leo von Klenze, der Hofarchitekt Ludwigs I., baute es in nur eineinhalb Jahren wieder auf. Er schuf das „Odeon“, damals Münchens schönsten und akustisch besten Konzertsaal. Die „Sing-, Lese- und Tonhalle“ wurde 1828 eröffnet und fasste 1500 Besucher.

Im November 1826 ließ Ludwig I. die Universität von Landshut nach München verlegen. Die neu berufenen Professoren kamen von außerhalb Bayerns, so der Publizist und Religionsphilosoph Josef Görres, der den Lehrstuhl für „allgemeine und Litterärgeschichte“ bekam. Mit seinem Schriftstellerfreund Clemens von Brentano ging er gerne im Hofgarten spazieren. Auch Heinrich Heine hoffte 1827 darauf, in München Professor für deutsche Literatur zu werden, und harrte in Wartestellung im Rechbergpalais aus. Doch Ludwig I. mochte seine spitze Feder nicht. Im selben Jahr kam noch ein zweiter Düsseldorfer nach München: der 42-jährige Schriftsteller, Offizier und Diplomat Karl August von Varnhagen. Seiner Frau Rahel schrieb er: „München ist wirklich sehr lebhaft durch die vielfachen Regungen in Künsten, Wissenschaften, bürgerlichen und politischen Dingen.“ Nachdem Ludwig I. 1848 abdanken musste, setzte sein Sohn Maximilian II. (reg. 1848-1864) seine Berufungspolitik fort. Er holte den Chemiker Justus von Liebig, die Historiker Sybel und Giesebrecht, die Dichter Emanuel von Geibel und Paul Heyse, den Theatermann Dingelstedt und den Übersetzer Friedrich von Bodenstedt nach München. Das Volk nannte die zum Teil arrogant auftretenden Herrn verächtlich „Nordlichter“.

Links: Porträt König Max I. Joseph, nach 1818 (Monacensia München). Rechts: Wohnraum in der Villa von Friedrich August von Kaulbach, 1887 (Monacensia München).

Mit dem Bau der Eisenbahn wurde München von weit her erreichbar. Viele künstlerisch begabte Jugendliche aus aller Welt entdeckten die Stadt, um an der Kunstakademie das akademische Malen zu studieren. Auch ausländische Professoren waren willkommen, wie der Ungar Alexander (Sandor) Wagner oder der Slowene Anton Azbe. Er eröffnete 1891 eine private Zeichen- und Malschule, die hauptsächlich Studenten aus Osteuropa besuchten. Sein bedeutendster Schüler war der Russe Wassily Kandinsky, der bei Azbe die Landsleute Igor Grabar und Alexej Jawlensky kennenlernte. Schon bald wechselte Wassily Kandinsky an die Kunstakademie und wurde Schüler des Malerfürsten Franz von Stuck. Viele später international renommierte Maler wie der Niedersachse Wilhelm Busch, der Kölner Wilhelm Leibl, der Italiener Giorgio de Chirico oder der Berner Paul Klee haben als Studenten an der Münchner Kunstakademie klein angefangen.

Bis zum Ersten Weltkrieg blieb München der Ort, wo die Kunst blühte, wo über sie diskutiert, wo sie bewundert und auch gekauft wurde. Private Malschulen, Galerien, Ausstellungssäle und Gesellschaften, die Künstler unterstützten, entstanden. Kunstverein und Künstlergenossenschaft ermöglichten den Künstlern wie nirgendwo sonst in Europa den Zutritt zum großen Markt der Kunst. Der Ruf der Kunststadt überdauerte die Nazi-Zeit. Als die Sängerin von „Lili Marlen“, Lale Andersen, in den Fünfziger jähren öfter in München war, stellte sie fest, dass „wir Künstler in München Sonntagskinder sind. Ich bin immer verzaubert, wenn mich die Metzgerin oder der Milchmann fragen, ob ich schon in der Paul-Klee-Ausstellung war oder ein bestimmtes Theaterstück gesehen habe. In welcher Stadt passiert Ihnen schon so etwas, dass der einfache Mensch sich für Kunst interessiert?“

Verfasst von: Monacensia Literaturarchiv und Bibliothek

Sekundärliteratur:

Tworek, Elisabeth (2008): „… und dazwischen ein schöner Rausch“. Dichter und Künstler aus aller Welt in München. Mit zahlreichen Farb- und Schwarzweißabbildungen. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 111-115.