Der Türmer steigt zum Friedhof herunter...
Der Türmer steigt zum Friedhof herunter und klaut eines der Totentücher, was allerdings von einem Skelett bemerkt wird, das sein Kleidungsstück wiederhaben will: Den gotischen Zierrat ergreift nun der Wicht / Und klettert von Zinne zu Zinnen. / Es ruckt sich von Schnörkel zu Schnörkel hinan, / Langbeinigen Spinnen vergleichbar. Während der (überflüssige) Zierrat sich mit dem kletternden Skelett verschwört, behindern es die (konstitutiven) Zeichen: Er rüttelt die Turmtür, sie schlägt ihn zurück, / Geziert und gesegnet, dem Türmer zum Glück, / Sie blinkt von metallenen Kreuzen. Da klingt auch ein bisschen Abscheu vor der Gotik mit, die er in Von Deutscher Baukunst schon thematisierte: „Ganz von Zierat erdrückt!“ und so graute mir's im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten krausborstigen Ungeheuers. Im Gedicht erscheinen die Skelette wie Wiedergänger der mittelalterlichen Architektur: Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins, / Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins, / Und unten zerschellt das Gerippe.
Die Ballade ist 1813, dem Jahr der Völkerschlacht erschienen, aber ob sie (man kennt Goethes Haltung in diesen Kriegen) eine Abkehr von dem national verstrickten Implikationen gotischer Architektur bedeutet, ist unklar. Goethe war sicher seinen Gedanken schon wieder entwachsen, ganz im Gegensatz zu seinen Landsleuten, die gerade erst anfingen, die Gotik romantisch zu verklären und ihr baugeschichtlich eine nationalistisch gefärbte Wiederkehr zu ermöglichen. Gerade die wechselnde, oder einfach komplexere Haltung Goethes zur Gotik ist aus kunstproduktiver Perspektive ergiebiger. Dass er seinen Faust in ein hochgewölbtes, enges, gotisches Zimmer auf einen Sessel setzt, speist sich atmosphärisch wohl aus Zuneigung und Grusel. Der Gotik wird in vielen (heutigen) Kommentaren eine rein negative, altväterliche, anti-moderne Symbolik zugeschrieben. Das ist zu Lektüre-schlüsselig gedacht, aber in der Tat thematisiert der ur-deutsche Gelehrte Faust, während er so einsam vor sich hin knittelt, seine architektonische Umgebung schon gleich nach dem berühmten Anfangsteil so: Weh! Steck ich in dem Kerker noch? / Verfluchtes dumpfes Mauerloch, / Wo selbst das liebe Himmelslicht / Trüb’ durch gemalte Scheiben bricht! / Beschränkt von diesem Bücherhauf, / den Würme nagen, Staub bedeckt, / Den, bis an’s hohe Gewölb’ hinauf, / Ein angeraucht Papier umsteckt; usw. Und dann wird das Biotop eingerichtet, in der sich gleich ein Geist und später der Teufel magisch akklimatisieren können. Auch das Motiv von Skelett und Gotik wird wieder aufgenommen: Statt der lebendigen Natur, / Da Gott die Menschen schuf hinein / Umgibt in Rauch und Moder nur / Dich Tiergeripp’ und Totenbein.
Und doch oder gerade deswegen etabliert sich die Gotik in der deutschen Literatur der Zeit. Schiller lässt seinen Wallenstein in einem „alten gotischen Saal auf dem Rathause zu Pilsen“ beginnen und von da an spielen. Und ab der Romantik ist sie danach ohnehin als Kulisse etabliert.
Und ich bin weitergefahren, habe aus Straßburg allerdings nicht die kürzeste Strecke nach Freiburg genommen, sondern einen Umweg, der mich dreizehn Jahre gekostet hat und den man Lebensabschnitt nennt. Vom Schlossberg, der Ende November noch glühend rot und gelb war, weil sich der Herbst für alle sichtbar und mittleiderregend in den Dezember schleppte, sah ich das Münster auf halber Höhe des Turms. Jacob Burckhardt hat recht. Es ist der schönste Kirchturm der Welt. Die Schornsteine redeten Rauch und die Dächer schwiegen von ihrem Alter. Neben mir erzählte jemand, wie eine Freundin von ihrem Mann verlassen wurde und Studenten erzählten sich von Steinmetzen, die ein ganzes Leben damit verbrachten, das Münster zu sanieren. Einer behauptete: „Seht ihr die Gerüste? Die fangen vorne an und gehen einmal drumherum. Dann fangen sie gleich wieder an. Vielleicht schaffen die das zweieinhalb Mal in ihrem Leben und dann löst sie jemand ab und der macht das genauso.“ Ich ging den Berg nicht weiter rauf. Die Höhe gefiel mir und ich spazierte sie nur ab. Wenn ich die Augen schloss und mir einen gotischen Gedanken vornahm, ich also zu meinem Hirn „Gotik“ sagte, und mal schaute, was es in den ersten Augenblicken antwortete, dann entstand ein ziemlich konfuser Abdruck von Türmen, Strebepfeilern, Wortfenstern, Blut, Ruß und Moos und klingendem Glas. Ein Gedankenbild, das allerdings mehr beinhaltete, als ich selbst in dem kurzen Moment erhaschen konnte, obwohl ich es selbst generiert hatte. Doch umso häufiger ich „Gotik“ zu mir sagte, umso konstruierter und fader und leerer wurde der mentale output. Wenn ich jetzt “gotisches Fenster” sagte, ging das nochmal von vorne los. Von der Fülle bis zur Bleiche. Und wenn ich „gotisches Fenster von der Kirche XY“ zu mir sagte, sah ich einfach ein detaillierteres Chaos mit von der Erinnerung schlecht restaurierten Lücken, schwarzen Flächen in den falsch gemerkten Farben. Gesichter und Tauben, die sich überlappten. Alles gepolstert mit viel Gefühlen und der Möglichkeit, auf einen Abschnitt „Kunst und Kultur“ in meinem Hirn zuzugreifen. Ein von Gott schlampig gereinigtes Areal. Er hing noch in den Ritzen. Viel Schweigen. Literatur und das akustisch verstärkte und verfremdete Husten als Kind am Sonntag in der Kirche. Das Flüstern. Das Rascheln, wenn alle im Dünndruckpapier der Bibeln blätterten. Aber auch das Bedürfnis, da nicht mehr hin zu müssen.
Und es wurde kälter auf dem Schlossberg, weil die Sonne sank. Ich schaute nochmal auf das Münster vor mir. Auf seine Gemachtheit. Und dann wirkte es so, als hätte man einmal der Statik die Haut abgezogen und die Wunden wären an der Luft verheilt.
Weitere Kapitel:
Der Türmer steigt zum Friedhof herunter und klaut eines der Totentücher, was allerdings von einem Skelett bemerkt wird, das sein Kleidungsstück wiederhaben will: Den gotischen Zierrat ergreift nun der Wicht / Und klettert von Zinne zu Zinnen. / Es ruckt sich von Schnörkel zu Schnörkel hinan, / Langbeinigen Spinnen vergleichbar. Während der (überflüssige) Zierrat sich mit dem kletternden Skelett verschwört, behindern es die (konstitutiven) Zeichen: Er rüttelt die Turmtür, sie schlägt ihn zurück, / Geziert und gesegnet, dem Türmer zum Glück, / Sie blinkt von metallenen Kreuzen. Da klingt auch ein bisschen Abscheu vor der Gotik mit, die er in Von Deutscher Baukunst schon thematisierte: „Ganz von Zierat erdrückt!“ und so graute mir's im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten krausborstigen Ungeheuers. Im Gedicht erscheinen die Skelette wie Wiedergänger der mittelalterlichen Architektur: Schon trübet der Mond sich verschwindenden Scheins, / Die Glocke, sie donnert ein mächtiges Eins, / Und unten zerschellt das Gerippe.
Die Ballade ist 1813, dem Jahr der Völkerschlacht erschienen, aber ob sie (man kennt Goethes Haltung in diesen Kriegen) eine Abkehr von dem national verstrickten Implikationen gotischer Architektur bedeutet, ist unklar. Goethe war sicher seinen Gedanken schon wieder entwachsen, ganz im Gegensatz zu seinen Landsleuten, die gerade erst anfingen, die Gotik romantisch zu verklären und ihr baugeschichtlich eine nationalistisch gefärbte Wiederkehr zu ermöglichen. Gerade die wechselnde, oder einfach komplexere Haltung Goethes zur Gotik ist aus kunstproduktiver Perspektive ergiebiger. Dass er seinen Faust in ein hochgewölbtes, enges, gotisches Zimmer auf einen Sessel setzt, speist sich atmosphärisch wohl aus Zuneigung und Grusel. Der Gotik wird in vielen (heutigen) Kommentaren eine rein negative, altväterliche, anti-moderne Symbolik zugeschrieben. Das ist zu Lektüre-schlüsselig gedacht, aber in der Tat thematisiert der ur-deutsche Gelehrte Faust, während er so einsam vor sich hin knittelt, seine architektonische Umgebung schon gleich nach dem berühmten Anfangsteil so: Weh! Steck ich in dem Kerker noch? / Verfluchtes dumpfes Mauerloch, / Wo selbst das liebe Himmelslicht / Trüb’ durch gemalte Scheiben bricht! / Beschränkt von diesem Bücherhauf, / den Würme nagen, Staub bedeckt, / Den, bis an’s hohe Gewölb’ hinauf, / Ein angeraucht Papier umsteckt; usw. Und dann wird das Biotop eingerichtet, in der sich gleich ein Geist und später der Teufel magisch akklimatisieren können. Auch das Motiv von Skelett und Gotik wird wieder aufgenommen: Statt der lebendigen Natur, / Da Gott die Menschen schuf hinein / Umgibt in Rauch und Moder nur / Dich Tiergeripp’ und Totenbein.
Und doch oder gerade deswegen etabliert sich die Gotik in der deutschen Literatur der Zeit. Schiller lässt seinen Wallenstein in einem „alten gotischen Saal auf dem Rathause zu Pilsen“ beginnen und von da an spielen. Und ab der Romantik ist sie danach ohnehin als Kulisse etabliert.
Und ich bin weitergefahren, habe aus Straßburg allerdings nicht die kürzeste Strecke nach Freiburg genommen, sondern einen Umweg, der mich dreizehn Jahre gekostet hat und den man Lebensabschnitt nennt. Vom Schlossberg, der Ende November noch glühend rot und gelb war, weil sich der Herbst für alle sichtbar und mittleiderregend in den Dezember schleppte, sah ich das Münster auf halber Höhe des Turms. Jacob Burckhardt hat recht. Es ist der schönste Kirchturm der Welt. Die Schornsteine redeten Rauch und die Dächer schwiegen von ihrem Alter. Neben mir erzählte jemand, wie eine Freundin von ihrem Mann verlassen wurde und Studenten erzählten sich von Steinmetzen, die ein ganzes Leben damit verbrachten, das Münster zu sanieren. Einer behauptete: „Seht ihr die Gerüste? Die fangen vorne an und gehen einmal drumherum. Dann fangen sie gleich wieder an. Vielleicht schaffen die das zweieinhalb Mal in ihrem Leben und dann löst sie jemand ab und der macht das genauso.“ Ich ging den Berg nicht weiter rauf. Die Höhe gefiel mir und ich spazierte sie nur ab. Wenn ich die Augen schloss und mir einen gotischen Gedanken vornahm, ich also zu meinem Hirn „Gotik“ sagte, und mal schaute, was es in den ersten Augenblicken antwortete, dann entstand ein ziemlich konfuser Abdruck von Türmen, Strebepfeilern, Wortfenstern, Blut, Ruß und Moos und klingendem Glas. Ein Gedankenbild, das allerdings mehr beinhaltete, als ich selbst in dem kurzen Moment erhaschen konnte, obwohl ich es selbst generiert hatte. Doch umso häufiger ich „Gotik“ zu mir sagte, umso konstruierter und fader und leerer wurde der mentale output. Wenn ich jetzt “gotisches Fenster” sagte, ging das nochmal von vorne los. Von der Fülle bis zur Bleiche. Und wenn ich „gotisches Fenster von der Kirche XY“ zu mir sagte, sah ich einfach ein detaillierteres Chaos mit von der Erinnerung schlecht restaurierten Lücken, schwarzen Flächen in den falsch gemerkten Farben. Gesichter und Tauben, die sich überlappten. Alles gepolstert mit viel Gefühlen und der Möglichkeit, auf einen Abschnitt „Kunst und Kultur“ in meinem Hirn zuzugreifen. Ein von Gott schlampig gereinigtes Areal. Er hing noch in den Ritzen. Viel Schweigen. Literatur und das akustisch verstärkte und verfremdete Husten als Kind am Sonntag in der Kirche. Das Flüstern. Das Rascheln, wenn alle im Dünndruckpapier der Bibeln blätterten. Aber auch das Bedürfnis, da nicht mehr hin zu müssen.
Und es wurde kälter auf dem Schlossberg, weil die Sonne sank. Ich schaute nochmal auf das Münster vor mir. Auf seine Gemachtheit. Und dann wirkte es so, als hätte man einmal der Statik die Haut abgezogen und die Wunden wären an der Luft verheilt.