III. Straßburg

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Straßburg als Festung und Universitätsstadt, wohin Goethe Ende März 1770 übersiedelte, um seine Studien abzuschließen.

Noch als Schüler bin ich nach Straßburg gefahren. Wir haben das Europäische Parlament besucht und sind von einem schweren bayerischen Politiker durch die Plenarsäle und Büros geführt worden und durften am Ende auf das Dach des Louise-Weiss-Gebäudes, geplant und gebaut vom Architecture Studio Europe, das sehr beeindruckend, aber seltsamerweise dem zerfallenden Kolosseum nachgebildet ist und auch Brueghels Turm-Baustelle im Turmbau zu Babel ähnelt, was vielfach bemerkt worden ist, aber einfach daran liegt, dass Brueghel an die römische Arena dachte. Das passte insofern zu meiner späteren Reise, weil in der berühmten Darstellung der Bibelszene Babylon ein gotisches Städtchen, keine antike mesopotamische Metropole ist. Von da oben (also dem Parlamentsbau) kann man irrsinnig weit blicken und das alte Straßburg schaut aus dieser Perspektive aus wie ein Weichbild in der Schedelschen Weltchronik. Der Löwenanteil der Fassaden ist übrigens aus Glas, weil Glas, wie das bei jedem Gebäude aus Glas immer von Bauherren, Bauträgern und Rezensenten betont wird, für Transparenz steht. Das ist schlagend. Denn Glas ist durchsichtig.

Ich hab mich damals von den anderen abgesondert und bin ein wenig durch die Innenstadt gegangen, durch Petit France mit seinen Fachwerkhäuschen und durch die eher pariserisch inspirierten Teile. Es gab noch paar uralte Frauen auf der Straße, die sich auf Französisch begrüßt und auf Deutsch weiter geplaudert haben. Ich ging in einen Buchladen namens Librairie Kléber und sah das erste Mal in meinem Leben so viele französische Bücher auf einmal, also Regale aus Gallimard-Ausgaben, Folio etc. Alles weiß bis beige. (Buch-Rückenenselbles sind ja von Land zu Land so unterschiedlich wie Straßenzüge.) Le Clézio hatte gerade den Nobelpreis bekommen und überall waren kleine Inselchen mit seinen Büchern drapiert. Ich konnte damals noch nicht gut genug Französisch, aber man verhält sich manchmal zärtlicher zu Büchern, wenn man sie nicht lesen kann. Ein (in diesem Fall sogar angenehmes) Gefühl von Neid auf die Menschen, die das lesen können, breitete sich in mir aus. Ich schlug mehrere Bücher auf und sah ein paar Seiten an.          

Ich habe das Münster (außer aus dem Zug heraus und vom Loise-Weiss-Gebäude herab) noch nicht wirklich gesehen. Und plötzlich, als ich um eine Ecke bog und noch eine, stand ich davor und wurde sofort von der Fassade hochgerissen. Die Vertikalen wirken. Die Gedanken verjüngen sich wie Kirchturmspitzen und verlieren sich weiter oben. Diesen Effekt gibt es in Deutschland in vielen Städten nicht, weil die umliegenden Häuser oft nicht mehr bis zur Kirche reichen, wie in Regensburg und Freiburg das noch beispielsweise der Fall ist. Man sieht da eine unglaubliche petrifizierte Machtgeste. Gerade in Frankreich, wo auch in kleinere Städte riesige Kathedralen stehen, die bis heute konkurrenzlos in der Höhe sind, kann man noch gut nachvollziehen, wie diese architektonischen Gesten früher schon gewirkt haben mussten. Wie Termitenköniginnen saßen diese Kirchen zwischen geduckten und gekrümmten Dachlandschaften und die Menschen wuselten dienend und sich in jeder Hinsicht verausgabend um sie herum, pflegten sie und zogen sie heran. Deshalb ist auch Brueghels Stadt, neben der typischen epochen-aktualisierenden Ästhetik, eine gotische, weil die Stadtgesellschaften vor seiner Zeit alle ja tatsächlich an ihrem Turm bauten oder gebaut haben und teilweise daran scheiterten, über Generationen hinweg und mit so vielen Toten wie heute bei den Stadien von Katar.