Gedicht über den Dom

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Ich hab am nächsten Tag im Zug ein Gedicht über den Dom angefangen, das ebenfalls zur ewigen Baustelle wurde und erst ein paar Jahre später fertig war, wenn es das ist:

 

18. Da spiegelt sich in den Wellen und Teilchen

Unbarmherzig bewegliche Hochöfen meine Organe, außer 
Betrieb, aber zwischengenutzt von Kultur, für Firmen-
events und Tatort-Schießereien. Alexandersittiche haben 
ihr Habitat in meine Lunge verlegt, wenn ich den Mund 
aufreiße, hört man ihre Flügel schlagen, ihr 
Kreischen absorbiert das Blut, es blubbert 
der Magen davon. So fühl ich mich, 
aber dann,
                                        ja dann fahr ich eigentlich nur 
an Leverkusen vorbei und rein nach Köln. Autobahnen treten 
wie Gnus an die Stadt und trinken sie leer. Deutschland ist 
unheimlich hässlich, ein absolut normales Debakel. Vor den 
Motel Ones gabs die Sparkassenmoderne und davor 
abgrundtief böse Herzen. 

Als Eingang? Die finsteren Gesichter vielleicht der 
Sarkophage im Kölner Dom; der Erzbischof aus Stein liegt 
wie ein Riese, auf den Grund gekettet, zwischen den 
Trutzburgmauern en miniature, die in der Apsis seinen Sarg
gleich über der Krypta begrenzen, den Bischofsstab in leichen-
starrer Hand. Hat selbst noch eine Leiche im Rückgrat, 
gesegnete Knochen, zu denen diese kleine Tür 
bei seiner Hüfte führt.

          Im Halbkreis noch andere Gäste aus Stein,
mit so viel mehr Knochen mehr, denen einst
die Ringe von den Fingern faulten, die Haut, 
das Fett, die Muskeln abwärts, ein geduldiges Tauchen von 
Nix. Zum Nix. Und von da aus dann die immense Strecke zurück:
zum Ufer der Materie.

Heißt: Es menschelt nur noch in Atomen, verschlossen in
einer langen Nacht aus Granit. Und Stille, Stille, Stille,
gotisch gehärtet, vom Kern bis zur Schale, zur Boden-
fliese, fast unendlich weit darüber das Gerippe des Himmels.
Der Kirche. Und tonnenweise Biomasse, meint: Milben, 
Kissenmoose, Tauben und Steinmarder, Schleiereulen und 
Mäuse, eingetrocknete Grünalgen und Birken, kniehoch. Zitter-
pappeln und an den Kreuzblum-Fialen, Farne, fehlbare Brombeer-
büschel. Ein Pelz aus Chlorophyll. Die Westfassade ist das 
Jagdrevier der Wanderfalken. Schlüpfen die Motten, umhüllen 
die Vögel rauschend beide Türme. Da sind Bakterien und 
Bärtierchen auch, die das Hauptschiff (jetzt streckentechnisch) 
im Leben nicht packen. Die wundersame Trümmerbirke, die 
als Segenszeichen aus den rauchigen Steinen wuchs, die gab es 
nicht, aber am Altarbild den Hirschkäfer bei der Akelei.

Und hinter dem glitzert eine winzige Basilika aus 
Gold und Gemmen und Kameen, von einem 
gewissen Nikolaus von Verdun geschmiedet, mit 
zwergischen Klerikern an den Fassaden, plus Jüngstem 
Gericht etc., darin: die Gebeine der Heiligen Drei Könige, 
die Μάγοι des Matthäus. 
                                       Die verzahnten sich in diesem
Sarg: da rutschte der Kiefer von Balthasar in 
Melchiors Trizeps, Caspars Biceps brach entzwei
und seine Rippen überwölbten lose Wirbel, fächerten sich 
aus in osteologisches Geröll und stachen in die Augen-
höhlen Gregor von Spoletos. Den hat man 
auch noch über die Weisen aus dem Morgenland 
gestreut. 
              Durch das Licht des Gerhard-Richter-Fensters fallen
bunt quadrierte Sonnenflecken durch Zufall auf ein 
von Rom gerügtes Priesterhaupt. Die Komplementärfarben 
topographieren sein Gesicht und sagen: Ich vergebe dir
nicht. Kein Gott, keine Gnade. Glaub mir, Gnade würde man 
in den Muskeln spüren, wenn es sie gäbe, ein seliges 
Seitenstechen, das sich im ganzen Körper verbreitet und …
vielleicht ist dieses farbige Quadrat auf der Schläfe
das einzige, was in der Welt der Gnade nahekommt, und
dennoch halt nicht reicht. Heute wie damals. 
Als die Bomber kamen. Da haben die toten Bischöfe ihre 
Gegenzauber gemurmelt, der stählernen Brücke zum Bahnhof 
war dennoch das Rückgrat gebrochen, wie der Moral der 
ganzen Stadt, lange davor.

Man hat die Kathedrale als Ausflugspunkt im Nebel
gebraucht. Es war ja nicht so, als hätte Gott den Dom 
aus dem Mond gebrochen. Seine Meere liegen im Dunkeln.