II. Köln
Wenn man Prag mit dem Zug Richtung Bayern verlässt, fährt man lange Zeit die Moldau entlang und eng an ihre Hügeln gelehnt, macht der Zug dem Fluss die Kurven nach. Ein Gewässer, das wie andere Flüsse von romantischen Komponisten als vaterländische tonale Angelegenheit verstanden wurde. In diesem Fall in Ma vlást von Bedřich Smetana mit dem fast schon zu bekannten Teil Die Moldau, der im Kafka-Museum in Dauerschleife lief bzw. rauschte. Weiter gleisabwärts konnte ich schon sie ebenfalls im Rahmen des symphonischen Zyklus’ vertonte Festungsanlage Vyšehrad aus dem Fenster sehen. Ich sitze gerne rückwärts im Zug, weil das ist, als würde man in die ganz unmittelbare, noch taufrische Vergangenheit schauen und ich werde dabei nicht so ungeduldig, wie wenn man auf ein Ziel zu fährt. Die Punkte in der Landschaft verschwinden, anstatt aufzutauchen, Gebäude ziehen sich hinter eine Biegung zurück und die Bäume werden von der Vergangenheit aus dem Augenblick gesaugt. Man sieht: Rückwärts-Sitzen/Sehen ist ein sehr seltenes Gefühl. Und wenn dann noch ein Fluss dazukommt, hat das etwas Polyphones.
Also zurück zu vertonten Flüssen: Die Donau bekam ja eine weniger strenge, aber doch von einem ganzen Land geliebten und als inoffizielle Nationalhymne betrachteten Walzer von Johann Strauß (Sohn) geschenkt, während sein Namensvetter Richard Strauss eine Tondichtung namens Die Donau für Orgel und Orchester unvollendet ließ. Der Rhein ist natürlich das meistvertoneteste Gewässer der Kunstmusik, vom Rheingold über die Rheinnixen, deren Barcarole später in venezianische Gewässer transferiert wurde, über die noch zu thematisierende Rheinische, über sämtliche Loreleys, bis hin zu den vielen Kunst- und Volksliedern, in denen der Rhein die Kulisse bildet.
Ein paar Monate nach meinem Prag-Aufenthalt fuhr ich von Frankfurt nach Köln an besagtem Rhein entlang, über Bingen, Koblenz und Bonn, saß wieder rückwärts und stieg aus Laune in der kleinen, pittoresken Stadt Oberwesel aus, um ein bisschen auf der Stadtmauer spazieren zu gehen und einen Kaffee zu trinken. Dafür gab es nur exakt einen Ort, ein Café, das sich seit den 50ern, abseits von den Tischdecken aus den 70ern, nicht mehr verändert hatte. Der Mann, dem es gehörte und der selbst noch immer bediente, musste weit über 80 sein, wirkte wie 90. Er ging gebückt und der Kaffee in der zitternden Tasse wurde vom Tresen bis zu meinem Tisch fast kalt und ein kleiner Teil, der sich in der Untertasse sammelte, verschüttet. Draußen war der Himmel schiefergrau. Ich hatte eine kleine Taschenausgabe der Heine-Gedichte dabei und blätterte ein wenig darin, bis ich mich entschied, das Lyrische Intermezzo aus dem Buch der Lieder mal wieder zu lesen. Ein paar Seiten später im Buch kam die Loreley, deren Felsen sich, vom Café aus gesehen, nur eine Flussbiegung weiter erhob. Es wäre fast schon kitschig gewesen, wenn ich es nicht kalkuliert hätte. Ich trank meinen Kaffee aus und wartete am Bahnhof, von dem aus ich eine alte, zum Hotel umgebaute Burg und Rebenhänge sah. Der Zug kam zu spät. Und ich blickte in den Rhein, der jetzt wieder grün-grau angeschwollen war, nachdem er die Monate zuvor fast kein Wasser mehr geführt hatte.
Und so wartete ich noch immer auf den Zug in Oberwesel. Der steile, bewaldete Hang, auf den die Stadt zu meiner Linken zulief, war nur spärlich bebaut. Ein Fachwerkhaus stand da völlig vereinzelt an einem exponierten Punkt, der von hier unten kaum zugänglich wirkte und gleichzeitig verwunschen und theatralisch. Es handelte sich dabei tatsächlich um das von der Stadtbevölkerung sogenannte Günderrode-Haus, in dem allerdings die romantische Dichterin, nach der es benannt ist, niemals gewohnt hat, niemals wohnen konnte. Edgar Reitz hat es für seinen dritten Teil der Heimat-Trilogie errichten lassen, in dem die beiden Hauptfiguren Hermann Simon und Clarissa Lichtblau mithilfe von ostdeutschen Handwerkern ein verfallenes Gebäude kernsanieren. Die Handlung spielt kurz nach der Wende 1990 und dass der Neu- und Umbau des Fachwerkhauses eine Metapher für das wieder zusammenwachsende Deutschland ist, muss nicht extra ausgeführt werden. In den Filmen wird also erzählt, dass das Haus der Günderrode gehört habe.
Karoline von Günderrode wird gerade wiederentdeckt. Schon gleich nach ihrem Tod wurde sie zum ersten Mal zur Protagonistin in Bettina von Arnims Roman Die Günderrode, bevor sie eineinhalb Jahrhunderte später in Christa Wolfs Erzählung Kein Ort. Nirgends (wie nie geschehen) Heinrich von Kleist begegnet. Und Edgar Reitz hat ihr dann ein Luftschloss aus Massivholz und Mörtel verschafft, von dem jetzt alle denken, dass sie es tatsächlich bewohnt hätte. Und wenn ich mich recht erinnere, wird in den Filmen auch behauptet, dass sie dort gestorben wäre. Der fiktive Komponist Hermann Simon vertont einige Günderrode-Gedichte, die seine Partnerin Clarissa interpretieren wird. Die echte Günderrode hingegen hat sich am Flussufer einen Dolch zwischen die vierte und fünfte Rippe ins Herz gestochen. Und ich habe damit natürlich wieder ihr Leben von hinten aufgezäumt, statt einfach zu erwähnen, dass sie eines der schönsten Liebesgedichte deutscher Sprache geschrieben hat, das Hochroth heißt: Du innig Roth, / Bis an den Tod / Soll meine Lieb Dir gleichen, / Soll nimmer bleichen, / Bis an den Tod, / Du glühend Roth, / Soll sie Dir gleichen. Ich glaube, dass der Verlag, in dem ich meine ersten Gedichte veröffentlicht habe, sich nach eben diesem Gedicht benannt hat. Da müsste ich den Verleger mal fragen, dachte ich mir und dass es eine schöne Fügung war, dass ich darin ein Gedicht, das gleichzeitig mein ältester Text in dem Band ist, untergebracht habe, das vom Rot in Bologna handelt oder sagen wir: spricht.
Aber weil ich noch auf den Zug wartete und um der Komplementärfarbe willen, sei hier noch das Grün von Hildegard von Bingen erwähnt, die nur ein paar Kilometer flussaufwärts lebte: O edles Grün, / das wurzelt in der Sonne / und leuchtet in klarer Heiterkeit, / im Rund des kreisenden Rades, / das die Herrlichkeit des Irdischen nicht erfaßt: / umarmt von der Herzkraft himmlischer Geheimnisse / rötest du wie das Morgenlicht / und flammst wie der Sonne Glut. / du Grün / bist umschlossen von Liebe.
Gegenüber von mir waren die Weinhänge verbuscht und ausgedörrt. Schwer zu sagen, seit wann sie nicht mehr bestellt wurden, aber direkt vor mir konnte ich dabei zusehen, wie um diese Uhrzeit die Dunkelheit schon wie uferlose Amseln in den Hecken saß. Als der Zug endlich losfuhr, war es fast finster und das beleuchtete Abteil schob sich als Spiegelbild über den Rhein und reichte bis in die kaum noch sichtbare Felswand der Loreley.
Weitere Kapitel:
Wenn man Prag mit dem Zug Richtung Bayern verlässt, fährt man lange Zeit die Moldau entlang und eng an ihre Hügeln gelehnt, macht der Zug dem Fluss die Kurven nach. Ein Gewässer, das wie andere Flüsse von romantischen Komponisten als vaterländische tonale Angelegenheit verstanden wurde. In diesem Fall in Ma vlást von Bedřich Smetana mit dem fast schon zu bekannten Teil Die Moldau, der im Kafka-Museum in Dauerschleife lief bzw. rauschte. Weiter gleisabwärts konnte ich schon sie ebenfalls im Rahmen des symphonischen Zyklus’ vertonte Festungsanlage Vyšehrad aus dem Fenster sehen. Ich sitze gerne rückwärts im Zug, weil das ist, als würde man in die ganz unmittelbare, noch taufrische Vergangenheit schauen und ich werde dabei nicht so ungeduldig, wie wenn man auf ein Ziel zu fährt. Die Punkte in der Landschaft verschwinden, anstatt aufzutauchen, Gebäude ziehen sich hinter eine Biegung zurück und die Bäume werden von der Vergangenheit aus dem Augenblick gesaugt. Man sieht: Rückwärts-Sitzen/Sehen ist ein sehr seltenes Gefühl. Und wenn dann noch ein Fluss dazukommt, hat das etwas Polyphones.
Also zurück zu vertonten Flüssen: Die Donau bekam ja eine weniger strenge, aber doch von einem ganzen Land geliebten und als inoffizielle Nationalhymne betrachteten Walzer von Johann Strauß (Sohn) geschenkt, während sein Namensvetter Richard Strauss eine Tondichtung namens Die Donau für Orgel und Orchester unvollendet ließ. Der Rhein ist natürlich das meistvertoneteste Gewässer der Kunstmusik, vom Rheingold über die Rheinnixen, deren Barcarole später in venezianische Gewässer transferiert wurde, über die noch zu thematisierende Rheinische, über sämtliche Loreleys, bis hin zu den vielen Kunst- und Volksliedern, in denen der Rhein die Kulisse bildet.
Ein paar Monate nach meinem Prag-Aufenthalt fuhr ich von Frankfurt nach Köln an besagtem Rhein entlang, über Bingen, Koblenz und Bonn, saß wieder rückwärts und stieg aus Laune in der kleinen, pittoresken Stadt Oberwesel aus, um ein bisschen auf der Stadtmauer spazieren zu gehen und einen Kaffee zu trinken. Dafür gab es nur exakt einen Ort, ein Café, das sich seit den 50ern, abseits von den Tischdecken aus den 70ern, nicht mehr verändert hatte. Der Mann, dem es gehörte und der selbst noch immer bediente, musste weit über 80 sein, wirkte wie 90. Er ging gebückt und der Kaffee in der zitternden Tasse wurde vom Tresen bis zu meinem Tisch fast kalt und ein kleiner Teil, der sich in der Untertasse sammelte, verschüttet. Draußen war der Himmel schiefergrau. Ich hatte eine kleine Taschenausgabe der Heine-Gedichte dabei und blätterte ein wenig darin, bis ich mich entschied, das Lyrische Intermezzo aus dem Buch der Lieder mal wieder zu lesen. Ein paar Seiten später im Buch kam die Loreley, deren Felsen sich, vom Café aus gesehen, nur eine Flussbiegung weiter erhob. Es wäre fast schon kitschig gewesen, wenn ich es nicht kalkuliert hätte. Ich trank meinen Kaffee aus und wartete am Bahnhof, von dem aus ich eine alte, zum Hotel umgebaute Burg und Rebenhänge sah. Der Zug kam zu spät. Und ich blickte in den Rhein, der jetzt wieder grün-grau angeschwollen war, nachdem er die Monate zuvor fast kein Wasser mehr geführt hatte.
Und so wartete ich noch immer auf den Zug in Oberwesel. Der steile, bewaldete Hang, auf den die Stadt zu meiner Linken zulief, war nur spärlich bebaut. Ein Fachwerkhaus stand da völlig vereinzelt an einem exponierten Punkt, der von hier unten kaum zugänglich wirkte und gleichzeitig verwunschen und theatralisch. Es handelte sich dabei tatsächlich um das von der Stadtbevölkerung sogenannte Günderrode-Haus, in dem allerdings die romantische Dichterin, nach der es benannt ist, niemals gewohnt hat, niemals wohnen konnte. Edgar Reitz hat es für seinen dritten Teil der Heimat-Trilogie errichten lassen, in dem die beiden Hauptfiguren Hermann Simon und Clarissa Lichtblau mithilfe von ostdeutschen Handwerkern ein verfallenes Gebäude kernsanieren. Die Handlung spielt kurz nach der Wende 1990 und dass der Neu- und Umbau des Fachwerkhauses eine Metapher für das wieder zusammenwachsende Deutschland ist, muss nicht extra ausgeführt werden. In den Filmen wird also erzählt, dass das Haus der Günderrode gehört habe.
Karoline von Günderrode wird gerade wiederentdeckt. Schon gleich nach ihrem Tod wurde sie zum ersten Mal zur Protagonistin in Bettina von Arnims Roman Die Günderrode, bevor sie eineinhalb Jahrhunderte später in Christa Wolfs Erzählung Kein Ort. Nirgends (wie nie geschehen) Heinrich von Kleist begegnet. Und Edgar Reitz hat ihr dann ein Luftschloss aus Massivholz und Mörtel verschafft, von dem jetzt alle denken, dass sie es tatsächlich bewohnt hätte. Und wenn ich mich recht erinnere, wird in den Filmen auch behauptet, dass sie dort gestorben wäre. Der fiktive Komponist Hermann Simon vertont einige Günderrode-Gedichte, die seine Partnerin Clarissa interpretieren wird. Die echte Günderrode hingegen hat sich am Flussufer einen Dolch zwischen die vierte und fünfte Rippe ins Herz gestochen. Und ich habe damit natürlich wieder ihr Leben von hinten aufgezäumt, statt einfach zu erwähnen, dass sie eines der schönsten Liebesgedichte deutscher Sprache geschrieben hat, das Hochroth heißt: Du innig Roth, / Bis an den Tod / Soll meine Lieb Dir gleichen, / Soll nimmer bleichen, / Bis an den Tod, / Du glühend Roth, / Soll sie Dir gleichen. Ich glaube, dass der Verlag, in dem ich meine ersten Gedichte veröffentlicht habe, sich nach eben diesem Gedicht benannt hat. Da müsste ich den Verleger mal fragen, dachte ich mir und dass es eine schöne Fügung war, dass ich darin ein Gedicht, das gleichzeitig mein ältester Text in dem Band ist, untergebracht habe, das vom Rot in Bologna handelt oder sagen wir: spricht.
Aber weil ich noch auf den Zug wartete und um der Komplementärfarbe willen, sei hier noch das Grün von Hildegard von Bingen erwähnt, die nur ein paar Kilometer flussaufwärts lebte: O edles Grün, / das wurzelt in der Sonne / und leuchtet in klarer Heiterkeit, / im Rund des kreisenden Rades, / das die Herrlichkeit des Irdischen nicht erfaßt: / umarmt von der Herzkraft himmlischer Geheimnisse / rötest du wie das Morgenlicht / und flammst wie der Sonne Glut. / du Grün / bist umschlossen von Liebe.
Gegenüber von mir waren die Weinhänge verbuscht und ausgedörrt. Schwer zu sagen, seit wann sie nicht mehr bestellt wurden, aber direkt vor mir konnte ich dabei zusehen, wie um diese Uhrzeit die Dunkelheit schon wie uferlose Amseln in den Hecken saß. Als der Zug endlich losfuhr, war es fast finster und das beleuchtete Abteil schob sich als Spiegelbild über den Rhein und reichte bis in die kaum noch sichtbare Felswand der Loreley.