Geboren ist Kafka nicht weit entfernt...

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Franz Kafka, Passfoto, ca. 1915/16

Geboren ist Kafka nicht weit entfernt im ehemaligen, verwinkelten Ghetto, das in dieser Gestalt nicht mehr existiert. Im bewussten Teil seines kindlichen Lebens besuchte und erlebte er das dort befindliche Gotteshaus: In der frühgotischen Altneu-Synagoge trennt ebenfalls nur ein Fensterchen zwei andersgeartete Sphären, nämlich den Hauptraum, der damals nur den Männern zugänglich war, und den nicht einsichtigen, den Frauen zugeteilten Vorraum, von wo aus sie am Gottesdienst (an)teilnehmen durften. Man muss in dieser faszinierend engen, prachtvoll geduckten Synagoge gewesen sein, um wenigstens zu erahnen, was für einen Eindruck sie auf den jungen Kafka gemacht haben musste. Den Hauptraum umläuft eine Bank, auf der der kleine Franz sicherlich beengt zwischen den größeren Körper der Männer saß, wobei der Längsseite gegenüber sogar noch eine in Knie-Reichweite angebrachte Sitzreihe angebracht war. Nach oben hin, zum Dachstuhl ist der Hauptraum von einer auch über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Legende geschieden: Die Lehmgebeine des Golem sollen dort noch immer liegen. Später, während der nationalsozialistischen Besatzung, die Kafkas Familie das Leben kostete, wurde das Gebäude verschont, weil man vorhatte, es in ein Museum der ausgelöschten jüdischen Rasse umzuwandeln. Doch auch wenn Kafka vor der deutschen Schreckensherrschaft starb, wurde er Zeuge der Tilgung jüdischer Spuren: Die alte Židovské Město pražské (die sog. Judenstadt), die direkt an den Altstädter Ring anschloss und die Altneu-Synagoge umgab, musste weichen, um einem gehobenen Wohnviertel mit habsburgisch klingenden Namen Josephstadt Platz zu machen. Der Abriss und die gründerzeitliche Neubebauung zogen sich von 1893 bis 1913 hin. Kafka kannte also die zeitliche Überblendung von Orten, die tiefen, gedanklich sichtbaren und gleichzeitig räumlich unsichtbaren Dimensionen der Geschichte aus erster Hand.

Diese Feststellungen sind Anlass, nicht Deutung. Und die literarische und biographische Sphäre wird noch einmal so getrennt wie zwei der erwähnten, rituellen Räume. Oder um es mit dem Rätselscharnier vom 1. Korinther 13 zu sagen: Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Worte: 

Eines der großartigsten Stücke kafkascher Prosa stellt das Proceß-Kapitel „Im Dom“ dar. K. muss zu seinem Ärger das Bureau verlassen, um einen italienischen Geschäftspartner durch den örtlichen Dom zu führen. Besonders stört K., dass er damit Bureauzeit verliert, selbst wenn er diese durch den Proceß, den er am Hals hat, sowieso nicht wirklich nutzen kann. Aber er entkommt dem Auftrag nicht und wird nun dadurch (abermals) unfreiweillig der bureauzeitlichen Welt entzogen und tritt in die symbolisch ewige Welt der Kirche ein. Da K. dem italienischen Gast, der an kulturellen Dingen sehr interessiert sein soll, Auskünfte über das Bauwerk und seine Kunstwerke in dessen Landessprache erteilen möchte, bereitet er sich noch kurz vor: Die Zeit, die ihm (K.) noch freiblieb verbrachte er damit seltene Vokabeln, die er zur Führung im Dom benötigte, aus dem Wörterbuch herauszuschreiben. Das ist metaphorisch im sprichwörtlichsten Sinne: Eine andere Sprache ist nötig, um auf das Gebäude zuzugreifen, seltene Worte sind nötig, eine Übersetzungsleistung, ein Übersetzen vom weltlichen Bureau in die vermeintlich jenseitige Welt Gottes.

Doch: Der Dom ist dunkel, es offenbart sich nichts. Der Italiener taucht nicht auf, obwohl er schon eine halbe Stunde überfällig ist, doch hier im Dom gelten die genauen, messbaren Zeiten ohnehin nichts. 

K. trat vor die Kanzel und untersuchte sie von allen Seiten, die Bearbeitung des Steines war überaus sorgfältig, das tiefe Dunkel zwischen dem Laubwerk und hinter ihm schien wie eingefangen und festgehalten. K. legte seine Hand in eine solche Lücke und tastete dann den Stein vorsichtig ab, von dem Dasein dieser Kanzel hatte er bisher gar nichts gewusst. Oft sind bei Kafka die handelnden Personen mit den Gebäuden um sie herum verschworen. (Ja man könnte sogar sagen, die Handlung ist mit den Gebäuden verschworen, ähnlich wie das Overlook Hotel von Stephen King, das selbst über das Shining verfügt und kommuniziert, halt nur vertrackter). Verschworen und verflucht: So, wenn z.B. das Recht die Zuhörer in der Galerie des Gerichtssaals beugt, sie regelrecht abknickt, weil sie so dicht unter die Decke dieses absurd winzigen Raumes gezwängt sind, dass sie mit Kopf und Rücken an die Decke stoßen und K. später sogar Menschen des Gerichts begegnet, die auch, wenn sie eigentlich Platz hätten von den Räumen scheinbar chronisch geknickt auf eine Beschäftigung warten. Bei der wirklich beeindruckenden, wenn auch in den Kulissen deutlich vom Buch abweichenden Verfilmung von Orson Welles ist der Gerichtssaal dagegen riesig, die Klaustrophobie wird durch das kollektive Schweigen und Applaudieren der Zuhörer hergestellt. Welles wollte sicher an Naziversammlungen, wie denen im Sportpalast erinnern und orientiert sich generell an der auf räumliche Einschüchterung setzenden Anonymisierungsästhetik von Billy Wilders The Apartment, einem Film, der zwei vorher gedreht worden war. Das funktioniert filmisch sehr gut. Und jeder Interpret, ob im Film oder im Theater, ist natürlich damit konfrontiert, dass kafkaeske Räume nur sprachlich abbildbar sind, was uns zurück in das Dom-Kapitel bringt: Immer ist die Sprache eine Mitwissende: Hier im Dom bekommt der Ankläger eine eigene Kanzel, die da vorher nicht war. Schon viel weiter vorne im Roman deutet sich das Wort ein erstes Mal an: Da bemerkte K. einen kleinen Zettel neben dem Aufgang, gieng hinüber und las in einer kindlich ungeübten Schrift: „Aufgang zu den Gerichtskanzlein.“ Hier auf dem Dachboden dieses Mietshauses waren also die Gerichtskanzleien? 

Das Wort „Kanzlei“ geht wie „Kanzel“ auf das Mittelhochdeutsche Wort „kanzelie“ zurück, das wiederum von dem lateinischen Wort „cancellus“ abstammt, was soviel bedeutet wie „Schranken“, weil die Kanzeln früher den Ort in der Kirche markiert, wo der Chorraum vom Hauptschiff abgetrennt wurde. Im Roman ver-schränken sich im Dom durch den Ankläger die Sphären irdischen wie ewigen Rechts. K. versucht aus dem Gebiet der Bänke zu fliehen. Er spürt allerdings, dass er sich an dieselbe Regel wie Orpheus halten muss: Falls er sich aber umdrehte, war er festgehalten. Dann gäbe es keine Möglichkeit, dem Bannkreis des Predigers zu entkommen. Natürlich dreht K. sich um. Und wird von der Kanzel herab mit Vorwürfen, seinen Proceß betreffend, überrascht und schließlich mit der auch als Einzelerzählung bekannt gewordenen (wie Kafka es selbst nennt) Legende Das Gesetz konfrontiert: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Das ist die Raumwerdung des Gesetzes. Im Dom steht also auf einer Kanzel ein Geschichtenerzähler, der auch eine Art Türhüter ist und erzählt die Legende, in der ein Mann vom Lande vor der Unermesslichkeit des Raumes, den Regeln und seinen Wächtern versagt. Saal um Saal, Tür um Tür, Hüter um Hüter: Die ewige Architektur. Wobei sich die Frage stellt, ob die Ewigkeit uns nicht zugänglich ist, weil das in ihrem Wesen begründet liegt oder schlicht, weil wir vor der Begrenzung der Dinge schon versagen. 

Anschließend an die Legende vom Gesetz gehen K. und der Geistliche schweigend durch die Dunkelheit des Domes. K. fragt: „Sind wir nicht in der Nähe des Haupteinganges?“ Worauf der Geistliche antwortet: „Nein. Wir sind noch weit von ihm entfernt.“