Ich machte mich fertig...

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Blick vom Veitsdom, 2017

Ich machte mich fertig und ging in die Altstadt, wieder an dem Wirtshaus von gestern vorbei, über den Wenzelsplatz, wo Kafka rechterhand in seiner Versicherungsanstalt gearbeitet hatte und suchte das Café Louvre, wo der gleiche Kafka gerne mit Max Brod und den anderen Prager Literaten wie Werfel und Kisch gewesen war, wie es hieß. Ich war nicht der einzige, der wegen Kafka in dem seit über hundertzwanzig Jahren nahezu (oder scheinbar) unveränderten Lokal war, wie ich an mindestens zwei Touristen mit Kafka-Ausgaben in der Hand ablesen konnte, während ich meine milch- wie zuckerlosen Kaffees trank. Das Kaffeehaus war wunderschön, mit Billardtischen in den abgedunkelten, mit Teppichen ausgelegten Nebenräumen. Außerdem mag ich Restaurants / Clubs / Bars im ersten Stock. Oder im Keller.

Dann ging ich ins Zentrum-Zentrum zum Altstädter Ring. Kafka bewohnte hier bekanntermaßen unglaublich viele Wohnungen, aber v.a. für kurze Zeit eine im Osten des großen Platzes gelegene, in der es doch tatsächlich ein Fenster gegeben haben soll, durch das man in das Innere der Teynkirche sehen konnte. Wenn man die Gebäude betrachtet, die tatsächlich mit der eigentlichen Hauptfront der Kirche nahtlos verwachsen sind, scheint das plausibel, aber die mentale Sprengkraft der sich verschränkten Sphären machte mich ganz hibbelig. Das Haus Gottes konnte von Kafkas Wohnung aus also rund um die Uhr eingesehen werden, man konnte dem Geheimnis ins Schlafzimmer und dem Heiligen Geist ins Gefieder schauen, die Rituale einer (das muss man, erinnerte ich mich selbst, im Kopf behalten) anderen Religion bestaunen. Und dabei trennte nicht mehr als ein Stück Glas die zwei unterschiedlichen Welten der Pflicht. Man kennt das: Kaum befindet man sich in dem hohen Kirchenschiff, reagiert der Sprachapparat auf die imperativen Koordinaten: Es wird geflüstert oder gesungen, gekniet oder geschritten, nicht geschrien oder gerannt. Die Grade des Gehorsams und des Gewissens unterscheiden sich von Religion zu Religion und von Generation zu Generation, aber jeder kennt die Wirkung der sakralen Schwelle. Jenseits also der Innenraum der Kirche und diesseits, gleich hinter Kafkas Bullauge wandelten sich also die Zwänge und augenblicklich griff das Regelwerk des familiären, nicht des kirchlichen Ritus. Kurz: Das Reich der Handlungen war separiert durch ein Bauelement.

Ich ging über die Steinerne Brücke auf die andere Seite der Moldau, zum Hradschin hinauf, wo hochgelegen in der weitläufigen Burganlage der Veitsdom (die Kathedrale des Erzbistums Prag) steht und über die Stadt schaut. Auch dieser Sakralbau ist – wie die Teynkirche – nicht so einfach zugänglich, wieder eigenartig versperrt und unnahbar. Hier sind es keine Stadthäuser, sondern ganze Flügel eines Schlosses, die sich in den Weg stellen. 

Dass Kafka ein Gespür für gebaute Räume des Übergangs hatte, zeigt auch die Wahl seines Schreibhäuschens im Goldenen Gässchen auf dem Prager Burgberg, den er Tag für Tag nach der Arbeit bestieg. Man befindet sich auf einer abfallenden, pittoresk bebauten Straße, betritt die Nr. 22 und schaut plötzlich aus dem Fenster in einen Abgrund. Die Häuser an der Nordseite des Goldenen Gässchens sind nämlich Teil der den Burgberg begrenzenden Mauer, bzw. in diese eingefügt. Der Wehrgang verläuft direkt über Kafkas Schreibzimmer und darunter rauscht im baumbestandenen Graben ein Bach. 

Eine unwahrscheinliche Fügung, dass Kafka immer oder zumindest auffallend häufig die absurdesten Architektur-Situationen bewohnte und frequentierte. Da scheint es fast schon nicht mehr erwähnenswert, dass er auch viele Jahre in dem ungewöhnlichen spätgotischen Haus zur Minute wohnte, auf dem eklektische Sgraffitoszenerien biblische Geschichten und antike Mythen verschmelzen und von wo aus er auf die berühmte Astronomische Uhr des Rathauses blicken konnte, die von zahlreichen Sagen umwoben ist. U.a. der vom Meister Hanuš, dem Konstrukteur der Uhr, dem die Ratsherren von Prag, weil er vergleichbare Aufträge aus anderen Städten annahm, beide Augen ausstechen ließen, worauf der blinde Meister die Uhr durch einen Griff ins Räderwerk verfluchte.