I. Prag

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Andreas Groll (1812-1872): Panorama der Prager Altstadt vom Kleinseitner Brückenturm, 1856.

Wo sind die Endlager der Gefühle? Ich bin mit dem Zug aus Wien gekommen, über das nicht weit hinter der Grenze liegende Brünn, bei dem vom Bahnhof aus die alte Burg zu sehen war und dann durch enge Täler gefahren, mit stillgelegten Fabriken und wahrscheinlich schon lange verlassenen, im Nebel nur teilweise sichtbaren Plattenbauten in den Hängen, wo die Arbeiter früher gewohnt haben. Das Wetter griff in die Architektur ein, steckte die Nebelfinger in die Schlote, lutschte am Gebälk und stand vor den zerbrochenen Scheiben, zerrissenen Ziegeln, den Wegen, Büschen und gerostetem Schrott. Ich blickte ins weißgraue Unkraut der Wolken und zwang mich, nichts zu fotografieren. Vieles wäre nicht auf dem Film gewesen, war nicht abzulichten, wie z.B. die Gespenster der Produktivkräfte oder die zu unsichtbarer Asche gewordenen Funktionen des Geländes. Und doch knirschten die gläsernen Münder der Fenster und erzählten mir die Wände etwas, in der Stimme von verdautem Lehm, im Dialekt der Oxidation von Sauerstoff, Feuchtigkeit und Metall.

Im Vergleich zu den alten, nicht mehr frequentierten, eigentlich untergegangenen Kurorten, mit ihren Sanatorien, Grandhotels und Heilbädern waren diese Bauwerke noch einmal ganz anders verlassen, anders leer und in ihren Funktionen schneller verstummt als Marienbad, Karlsbad am (von mir aus gesehen) anderen Ende von Tschechien. Das zum Partyort gewordene Bad Gastein. Der Mozartkugelbarock von Bad Ischl. Keine verfallenen Gebäude, sondern balsamierte Gebäude. Die ursprünglichen Bedarfe nach diesen Orten sind im Laufe der Jahre und mit ihren treuen, bald unregelmäßigen Besuchern und ihren gesamten Gesellschaftsschichten so gut wie ausgestorben oder haben sich vollkommen gewandelt. Verlassene Kolonnaden. Keine Kreise. Beethoven, Goethe, Rahel Varnhagen. Kreise zum Wasser. Der Endpunkt im Kreis. Die Bedeutung der Bäder ist gesamtgesellschaftlich auf ins Bodenlose gesunken. Ich weiß gar nicht genau, wann zwischen den Kriegen diese Art von Erholung und Aufenthalt zerrieben worden ist. Wie bei jeder Form von Dekadenz gibt es kein einzelnes Datum, keinen Doomsday der Interessen. Irgendwann blieben die Russen aus, die schon im 19. Jahrhundert gekommen und über Wochen, im Fall von Turgenjew sogar sein restliches Leben geblieben sind. Tschechow ist dort gestorben. Und wann hörte das mit den Nervenkranken des Fin de Siécle auf? Mit den nervösen Künstlern und Kaufleuten, den Komponisten und Schiffbauern, die für Monate auf Kur gingen? Irgendwann verliefen sich die Bedürfnisse, blieben die Gäste aus. In immer weniger Köpfen manifestierte sich das als Wunsch, was man kollektiv, bzw ökonomisch als Nachfrage bezeichnet. Wo sind eigentlich die Endlager der Gefühle?

Ich bestellte mir einen Tee im Speisewagen und blätterte in meiner Proceß-Ausgabe, las ein paar Absätze gegen Ende und legte das Buch zur Seite, um stattdessen die Speisekarte von oben nach unten durchzugehen. Das Essen in der tschechischen Bahn wurde frisch zubereitet und war besser, günstiger und vorhandener als bei der DB. Bald hab ich meine Lippen in den Schaum des zweiten Biers getunkt, was ich gleich bereute, weil damit ich für die Uhrzeit einen Ticken zu angetrunken war, aber ich hatte für heute auch nicht mehr vor, als mich in meinem mit etwas schlechtem Gewissen gebuchten AirBnB, das Google-Maps zufolge und was sich später als richtig herausstellte, relativ nah zur Innenstadt gelegen war, ins Bett fallen zu lassen.

Es war schon dunkel und ich ging über die alten, speckigen Gehsteigbeläge die vereinzelt noch immer braungrauen Gründerzeitstraßen entlang, über deren Geraden immer wieder Autos rasten. Die Motoren fauchten im Stuck der verrußten K&K-Fassaden. Ich suchte mir ein uriges holzvertäfeltes Wirtshaus in der Nähe, fand das U Pravdů und aß neben einem unglaublich analogen Radiogerät, das tschechische Schlager irgendeines vergangenen Jahrzehnts spielte, ein paar böhmische Knödel, die man in Sauce tunken konnte wie Schwämme, bis sie alles aufgesaugt haben. Dazu gab es ein Tris aus Entenbraten, Schwein und Blutwurst. Viel zu viel. Ich trank drei Pils und ging danach noch in Richtung des Altstädter Rings, schaffte es aber nur bis zur Mitte des Wenzelsplatzes, kehrte müde zurück in die Wohnung und fiel wie geplant in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen wachte ich relativ früh auf, weil ich vergessen hatte, die Vorhänge zuzuziehen, was mir aber jetzt allerdings die Überraschung verschaffte, dass ich, was mich bei der Lage der Wohnung wunderte, direkt hinüber auf den Hradschin schaute. Ich hatte das Zimmer im vorletzten Stock, was mit der, wie ich mich auch jetzt erinnerte, abfallenden Straße dazu führte, dass die eigentlich zwischen dem alten Burgberg mit dem gotischen Dom und mir liegenden Viertel praktischerweiser in der Stadt versanken.