40. Kapitel

Torokaha gab viel auf die Meinung des Schamanen, aber sie war die Königin, sie war es, welche die Verantwortung für das Wohlergehen Tiratangas trug. Und sie behielt recht: Die Kampfspiele versetzten die Menschen in einen Rausch, der noch tagelang anhielt. Endlich ging es nicht mehr um die müßige Frage, welche Gottheit die mächtigere war, sondern nur noch darum, ob der Sieger in der Arena bei den nächsten Kämpfen wieder antreten würde. Torokaha hatte diese bereits in einem Mond angesetzt, und die Wettstuben schossen aus dem Boden wie Pilze in einem regnerischen Herbst. Dies wiederum erfreute die Satrapanim, die nichts lieber sahen als neue Möglichkeiten, ihren Reichtum zu mehren.

Mit der Zustimmung des Hohen Rates vertagte sie die Wahl einer neuen Sprecherin auf die Zeit nach dem Herbstgebet, dann könnte sie vorher auch noch Kaïkopuras Meinung hören. Die Hohepriesterin hatte Boten geschickt mit der Bitte, sowohl den Schamanen als auch Kohatu festzusetzen. Allerdings hatten weder die Boten noch die Bezeichneten selbst ihr verständlich machen können, worin deren Fehler nun eigentlich liege, weshalb Torokaha beschlossen hatte, auf Kaïkopuras Ankunft zu warten.

Fünf Tage später kündigte diese sich an. Am kommenden Vormittag werde sie Ranui erreichen. Mit Atua-Kores Hilfe habe sie den Bergriesen besiegt; man solle auf dem Platz der Offenbarung das Volk versammeln, sie werde ihm einen Splitter des Erschlagenen zeigen.

Die Stadt stand kopf.

Wer sich nach wie vor Atua-Kore verbunden fühlte, feierte bis zur Besinnungslosigkeit. Die Stadtwache schickte alles, was gefechtsfähig war, in den dritten Ring, doch überraschenderweise gab es kaum Gewalttätigkeiten. Gleich, ob es noch dabei war, die verheerende Nachricht zu verdauen, oder bereits einen Gegenschlag plante – das Gefolge Alateons war wie vom Erdboden verschluckt.

Torokaha selbst lag wach in ihrem königlichen Schlafgemach und starrte die Malereien an der Decke an; die Geburt Ranuis, Atua-Kores Erschaffung des Schattenberges, der Bau der Tempelpyramide. War Alateon tatsächlich besiegt? Der Hohepriesterin wäre eine Tat gelungen, die Atua-Kores Macht auf Jahrhunderte hinaus bezeugen könnte. War morgen der Tag, der das Goldene Zeitalter einleiten würde? So gerne wollte Torokaha es glauben – und doch wurde sie von düsteren Gedanken bedrängt: Was, wenn Kaïkopura für ihre Leistung mehr Dank erwartete, als ihr zustand? Was, wenn diejenigen, die sich zu Alateon bekannt hatten, nicht friedlich von ihrem Glauben ablassen würden? Mit Feuer und Tod, hatte Mahuika prophezeit, werde der Gott aus den Nebelzinnen über Ranui kommen. Wer konnte wissen, dass Kaïkopura nicht von ihm getäuscht worden war?

 

Aus dem unruhigen Schlaf, in den sie letztendlich fiel, wurde sie noch vor Morgengrauen wieder gerissen. Sie hatte das Gefühl, jemand hatte ihr Schlafzimmer ab- und am Fluss wieder aufgebaut, so laut war das Rauschen. Irgendeine überspannte Offizierin musste entschieden haben, das Tor zum inneren Kreis schon zu öffnen, denn die Menge ergoss sich wie ausgekübelt auf den Platz. Auf dessen Mitte hatte die Tempelgarde eine hölzerne Plattform errichtet, nicht unähnlich dem Blutgerüst. Soweit Torokaha die Boten der Hohepriesterin verstanden hatte, sollte dort der Splitter aus dem Leib Alateons vorgeführt werden. Vor jeder der vier Seiten war ein Heroldstrichter aufgestellt worden.

Rasch ließ sie sich waschen und einkleiden. Das Frühstück wurde gebracht, aber sie verspürte keinen Hunger. Ungeduldig wartete sie, bis Kohatu erschien, um sie abzuholen. Aufgrund der Masse an Menschen entschied die Hauptfrau, sie durch die unterirdischen Gänge zu führen. Das erste Stück musste dasselbe sein, durch das die Hauptfrau damals mit Hua zum Tempel geflohen war, als die Styrkur angegriffen hatten. Torokaha verzichtete auf eine Bemerkung.

Da es sich nicht um ein ordnungsgemäßes Ritual handelte, hatte Torokaha keine amtliche Aufgabe. Statt zum Tempel und zur Plattform der Verkündigung ging es zur Tribüne des Hohen Rates. Die Tribüne wurde durch einen dreifachen Ring von Bewaffneten geschützt. Offenbar traute auch Kohatu dem Frieden nicht, in dem die Nacht vergangen war.

Der Schamane wartete bereits, zu ihrem Missfallen, wie sie sich eingestehen musste. Seit seiner Rückkehr hatte er auf sie eingeredet, das Kriegsrecht aufzuheben, die Stadt in einen Zustand der Normalität zurückzuführen. Er schien nicht verstehen zu wollen, dass die alte Normalität nicht mehr war als ein Geschwür, das früher oder später aufgebrochen werden musste. Doch erst, als die Boten Kaïkopuras deren Ankunft gemeldet hatten, war er unausstehlich geworden. So unverschämt hatte er davor gewarnt, den Splitter Alateons in die Stadt zu bringen, dass sie ihm verboten hatte, ein einziges weiteres Wort zu sprechen, wollte er seine Zunge nicht verlieren. Und gegenwärtig wollte er sie wohl behalten, denn er nickte ihr nur stumm zu, als sie den goldverzierten Lehnstuhl aufsuchte, hinter dem er stand.

Warten. Nichts hatte sie zu tun außer Wein zu trinken und die Versuche der Satrapanim abzuwehren, die um ihre Aufmerksamkeit buhlten. Es war ein wunderbar milder Tag, der Herbst hatte Ranui noch nicht in voller Kraft erreicht. Warm lächelte das Auge Atua-Kores über der Stadt. Im Gegensatz zu Torokaha schien die Göttin den Verlauf der kommenden Stunden nicht zu fürchten. Missmutig ließ Torokaha sich Wein nachfüllen.

Zuerst war es nur eine kleine Regung am Tor zum ersten Ring, dann drehten sich mehr und mehr Köpfe. Das aufgeregte Geplapper der Menge erstarb, Unaufmerksame wurden von ihren Nachbarn in die Seite geknufft. Just, als Torokaha am Tor das goldene Banner entdeckte, wurde es von einer Brise zum Flattern gebracht, gerade als habe Atua-Kore selbst es wehen sehen wollen. Die Menschen drängten zurück, und von ihrer erhöhten Position aus konnte Torokaha den schimmernden Zug der Tempelgarde sehen, der mit der Selbstgewissheit jahrhundertelanger unangefochtener Herrschaft die Menge teilte. Die Gardisten gingen zu Fuß, doch an ihrer Spitze ritt Kaïkopura, strahlender denn je, gehüllt in eine Robe aus tausenden goldenen Plättchen, die betörend in der Sonne funkelten. Ihre Kapuze hatte sie hochgeschlagen – ein Zeichen dafür, dass sie sich, um ihrer Göttin näher zu sein, dem Irdischen entzog.

Gleich hinter ihr erkannte Torokaha jetzt eine Bahre, die von vier Gardisten getragen wurde. Der Gegenstand, dessen Beförderung die Bahre diente, war unter einem goldenen Tuch verborgen.

Vor der Plattform in der Mitte des Platzes ließ Kaïkopura ihr Pferd halten. Zwei Gardisten halfen ihr beim Absteigen, während der Rest des Zuges einen Ring um die Plattform bildete. Als Kaïkopura deren Stufen erklomm, fiel Torokaha der ungelenke Gang auf. Er erinnerte etwas an die alte Amokapua – allerdings hatte diese zwanzig Winter mehr gesehen als die neue Hohepriesterin.

In atemloser Stille verfolgte die Menge, wie die Bahrenträger ebenfalls auf die Plattform stiegen und zu Füßen Kaïkopuras ihre Last niederlegten. Jene winkte, die Träger zogen sich zurück. Kaïkopura hob die Arme, die Herolde traten an ihre Trichter. »Atua-Kore sei gepriesen«, ertönte es, »denn wir sind ihr Volk.«

»Atua-Kore sei gepriesen«, echote die Menge.

»Die Finsternis kriecht durch jede Ritze der Welt, um unsere Seelen zu erreichen, das Dunkel in ihnen zu nähren. Doch nichts haben wir zu befürchten, denn wir wandeln im goldenen Licht.«

»Atua-Kore sei gepriesen«, kam es zurück aus ungezählten Kehlen.

»Wer glaubt, die Goldene herausfordern zu können, wird selbst in die Finsternis gehen«, predigte die Hohepriesterin, »sei es Mensch, Geist, Gott.«

Sie trat an den verhüllten Gegenstand. Bis zu ihrer Brust ragte er auf. »Alateon war nicht der erste Verführer – noch wird er der letzte sein.« Sie griff nach dem Tuch. »Doch sein Schicksal teilen alle, die der Goldenen nicht folgen wollen.« Sie riss es zurück. »Seht einen Splitter seines Leibes.«

Mit trommelndem Herzen war Torokaha den Handlungen der Hohepriesterin gefolgt. Hatte gefiebert wie alle, was sich unter dem Tuch befände. Nun sah sie es: eine Tonne. Ein Fass, wie der Schamane es berichtet hatte. Doch es leuchtete in einem unnatürlichen Gelb, und gefertigt war es aus keinem Material, das Torokaha kannte.

Kaïkopura legte ihre Hände auf den Deckel. »Seid ihr bereit, die Überreste eines Gottes zu sehen?«

Neben Torokaha klirrte es. Ihr Weinglas, es musste ihr aus der Hand gefallen sein. Sie war nicht durstig.

Kaïkopura winkte ihrem Gefolge, zwei vierschrötige Kerle eilten herbei, mit Werkzeug in den Händen, das den Armen einer gewaltigen Gottesanbeterin glich. Hinter Torokaha rief der Schamane etwas. In seiner Stimme lag so viel Schrecken, dass Torokaha sich zu ihm umdrehte. »Was hast du gesagt?«

»Sie will es öffnen.« Sein Gesicht war bleich wie Herbstnebel.

»Das sehe ich.« Gereizt von der unnötigen Ablenkung, wandte sie sich wieder der Plattform zu.

»Sie darf es nicht tun ...«

»Still, Heiler.«

»Hör mir zu«, der Schamane packte sie am Oberarm, riss sie zu sich herum, »die Hohepriesterin droht den größten Fehler zu begehen, den ...«

Das war zu viel. Niemand durfte es wagen, die Königin so anzufassen – und im Angesicht der Satrapanim. »Kohatu«, befahl Torokaha, »nimm den Knochenbrecher und führe ihn in den Palast.«

Doch jener wollte sich noch immer nicht fügen. »Irgendetwas stimmt mit ihr nicht. Ihr Gang ... warum zeigt sie nicht ihr Gesicht?«

Die Satrapanim wandten ihre Köpfe, die Wut kroch Torokaha die Beine hoch. »Bring ihn aus der Stadt«, befahl sie ihrer Hauptfrau, »und sorg dafür, dass er nicht wiederkommt.«

Unter dem Griff der Hauptfrau musste der Elende endlich loslassen. Kohatu zerrte ihn davon. Torokaha hatte weiteres Toben gefürchtet, doch er wehrte sich nicht mehr, stolperte stumm von der Tribüne, den Blick auf das gelbe Fass gerichtet.

Betäubt wandte sich Torokaha wieder dem dortigen Geschehen zu. Umringt von der staunenden Menge bearbeiteten die Vierschröter mit ihren Gerätschaften das Fass, daneben stand reglos Kaïkopura.

Torokaha wollte erleichtert sein, dass der Schamane sie nicht mehr stören würde – doch das Grauen in seinen Augen hatte sich wie ein kaltes Laken um ihren Hals gelegt. Was, wenn seine Angst nicht grundlos war? Seine Warnungen nicht übertrieben?

Auch vor der königlichen Tribüne war ein Trichter aufgestellt worden. Mit zusammengepressten Lippen trat Torokaha an die Balustrade, machte dem dort wartenden Herold ein Zeichen, dass sie sprechen wolle.

»Ihre königliche Hoheit Torokaha ergreift das Wort«, dröhnte es aus seinem Trichter. In einer einzigen großen Bewegung wandte der gesamte Platz sich zu ihr um. Selbst Kaïkopura drehte sich, die Vierschröter ließen von ihren Bemühungen ab. Der Herold blickte zu ihr auf, erwartete ihre Verkündigung.

»Eure Heiligkeit Kaïkopura«, begann Torokaha, ihre Hände krallten sich ins Holz der Balustrade, »warum verbergt Ihr Euch wie eine Tochter der Schatten? Ihr seid der Mund Atua-Kores, ich bitte Euch, zeigt dem Volk Euer Gesicht.«

Wieder drehte sich die Menge wie auf Befehl, erwartete die Entgegnung der Hohepriesterin.

Doch diese stand so starr, als habe man sie aus Stein gehauen.

»Eure Heiligkeit«, wiederholte Torokaha, ihre Kehle war trocken, »zeigt Euch.«

Ein Raunen glitt über den Platz. Die Königin – die Erwählte der Göttin – bat den Mund Atua-Kores vor aller Augen um eine Selbstverständlichkeit – und der Mund Atua-Kores blieb stumm.

»Eure Heiligkeit«, sagte Torokaha ein drittes Mal, »tretet ins Licht.«

Und nun, endlich, hob die Hohepriesterin ihre Arme, griff nach dem Saum ihrer Kapuze und zog sie vom Haupt. Selbst auf die Ferne sah Torokaha genug, dass ihr übel wurde. Nur noch wenige Büschel von Kaïkopuras prachtvollem Haar waren übrig, dazwischen glänzten feucht schwärende Stellen. Ihre Augen waren die einer Toten, die Haut dünn wie Papier, dunkle Schlieren liefen über ihre Wangen. Ein Geist der Finsternis.

Am Rande nahm Torokaha wahr, wie die Besitzlosen Schutzzeichen um Schutzzeichen schlugen, benommen tat sie es ihnen gleich. Mit weit geöffneten Augen starrte sie Kaïkopura an, und sah nichts mehr. Sie war die Königin, sie musste Ranui retten. Aber was konnte sie tun? Der Mandrêb hatte sich getäuscht. In dem Fass war keine Waffe – keine Waffe konnte ein Gesicht so zeichnen, wie das der Hohepriesterin gezeichnet worden war. Nur der Fluch eines Gottes vermochte das.

»Atua-Kore hat uns verlassen«, flüsterte irgendjemand, sprach das Offensichtliche aus. »Die Hohepriesterin wurde verflucht«, schrie es aus der Menge. »Wir sind verloren«, erscholl es. Erste Dinge wurden auf Kaïkopura geworfen. »Stirb, Verfluchte.« Die Vierschröter wichen vom Fass zurück, sahen zu, dass sie von der Plattform runterkamen. »Flieht, bevor es zu spät ist.« Die Stimmen, die an Torokahas Ohr drangen, barsten vor Verzweiflung. »Ranui wird untergehen.« Mit wilder Ziellosigkeit drehte sich Kaïkopura um die eigene Achse, suchte Schutz, wedelte mit dünnen Fingern ihre Wachen herbei. Doch der Ring der Tempelgardisten verharrte still, kein einziger Krieger löste sich, um seiner Herrin beiseitezustehen. Von allen Seiten prasselte es jetzt auf die Hohepriesterin ein; sie legte die Arme an den Kopf, krümmte sich, ging in die Knie, aus ihrer goldenen Robe war ein Teppich dunkler Flecken geworden.

Nicht zur kleinsten Regung fähig verfolgte Torokaha das Unglück; beobachtete, wie Kaïkopura zu Boden sank und weiter mit allem beworfen wurde, dessen die Menge habhaft werden konnte. Ihr zuckender Leib verschwand unter Schuhen, Rüben, Würfelbeuteln, Tongefäßen, Küchenmessern. Selbst als sie nicht einmal mehr zuckte, dauerte es noch geraume Weile, bis der Hagel abflaute.

In einem Augenblick der Stille erkannte die Menge, was sie getan hatte. Der Mund Atua-Kores war tot, ermordet von deren eigenem Volk. Und aus dieser Erkenntnis ergab sich eine zweite: Das war das Ende.

Torokaha spürte es – innerhalb des nächsten Wimpernschlags würde jeder und jede nur noch auf sich selbst bedacht sein. Würde auf diejenige Weise versuchen, sich selbst zu retten, die ihm oder ihr die nächste war. Und die Kanäle Ranuis würden sich rot färben.

Was konnte sie tun? Sie sah nach dem Herold, doch der war nirgends zu entdecken. In der Menge begannen die ersten, sich zur Flucht oder zum Kampf zu wenden. Ohne sich weiter zu besinnen, griff Torokaha nach dem unteren Saum ihrer Robe, riss sie bis zu den Knien auf. Dann schwang sie sich über die Balustrade der Tribüne. Halb sprang, halb fiel sie die drei Schritt bis zu dem marmornen Boden des Platzes. Ein stechender Schmerz fuhr ihr in den Knöchel, humpelnd legte sie den kurzen Weg bis zum verlassenen Trichter zurück. Die Unruhe in der Menge stieg und stieg, breitete sich aus wie ein Lauffeuer.

»Ich bin Torokaha«, rief Torokaha, doch aus der anderen Seite des Trichters dröhnte es nicht, armselig schwach tröpfelten die Worte heraus. Über den Platz der Offenbarung hallten Schreie des Zorns, des Schmerzes, des Schreckens.

Torokaha ballte die Fäuste; stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihre Lippen so nah wie möglich an das Mundstück des Trichters zu bekommen. »Ich bin Torokaha«, versuchte sie es noch einmal, »Königin Ranuis.« Diesmal gelang es besser. »Hört mich an«, rief sie, und der Trichter begann zu schwingen. »Ranui, hör mich an.«

Noch immer wogte die Menge in hilflosem, hitzigem Tumult, aber ein paar sahen sich nach der Tribüne um. Als sie die Königin dort nicht entdeckten, blickten sie zum Trichter darunter.

»Besitzlose, Ehrbare, Satrapanim, hört Eure Königin«, rief Torokaha, ermutigt von ihrem ersten Erfolg. Der Schmerz in ihrem Knöchel drohte ihr die Sinne zu rauben. Sie hielt sich am Trichter fest, bewahrte auf den Zehen ihres unverletzten Beines das Gleichgewicht. »Hört mich an!«

Mehr Leute wandten sich um, griffen nach diesem Strohhalm der Ordnung in einem Strudel des Wahnsinns.

»Ich bin Torokaha! Ich bin Eure Königin!« Sie schrie jetzt so laut, wie sie konnte. Wenn sie jetzt nicht gehört würde, war es ganz gleich, ob sie sich bei dem Versuch unziemlich zeigte.

Und tatsächlich, die Wogen beruhigten sich. Wer gerade noch seinem Nächsten das Messer in den Bauch gerammt hatte oder über die holprigen Körper Gestürzter hinweg sein Heil in der Flucht gesucht hatte, hielt inne, richtete sich auf, versuchte, die Worte der Königin zu verstehen.
»Ich bin die Königin Ranuis. Ich bin Torokaha, Tochter der Haika. Ich bin Torokaha, Schwester der Mahuika, und ich sage Euch, haltet ein. Wer Alateon schmäht, bringt Feuer und Tod über die Stadt, so hat die Prophetin es verkündet. So wie die Hohepriesterin für ihre Anmaßung bestraft wurde, droht uns allen der Fluch des Gottes. Doch wartet« – ihre Stimme überschlug sich, als sie merkte, wie die Stimmung bereits wieder ins Blutvergießen zu kippen drohte –, »als die Prophetin Mahuika ermordet wurde, waren es Königin Hua und Sprecherin Sokai, die das Urteil sprachen. Alateon ist ein gnädiger Gott, er will euch zu verzeihen – zumindest all jenen unter euch, die bereit sind, seine Wünsche zu achten.« Torokaha konnte nicht mehr, sie schnappte nach Atem, doch sie wagte keine Pause. »Hört meine Worte. Ich stehe hier als Eure Königin – aber an meiner Schwester statt auch als der Mund Alateons. Noch ist es nicht zu spät, euch und eure Stadt zu retten.«

»Er ist nicht erschlagen?«, rief jemand. Eine andere: »Was ist mit dem Splitter seines Leibes?«

Und auf einmal verstand Torokaha, wozu sie am Leben war. Es gab ein Schicksal. Es gab eine göttliche Fügung. Was sie in ihrer Verzweiflung behauptet hatte, war wahrer, als sie zuerst verstanden hatte. Ohne Furcht war Mahuika in die Finsternis gegangen – warum? Weil sie von dem Wissen erfüllt gewesen war, von einem Gott geleitet zu werden. Es war kein Zufall gewesen, der Torokaha an die Ufer von Styrkur Dok gebracht hatte – sondern die schützende, zielgerichtete Hand eines Gottes.

»In dem Fass befindet sich kein Splitter Alateons«, verkündete sie. »Es ist ein Zeichen.« Sie ließ von ihrem Trichter ab, humpelte auf die Plattform zu. Der Schmerz in ihrem Knöchel war nur eine kleine Prüfung – sie spürte, dass sie einer weit größeren gewachsen war. Andächtig wich das Volk vor ihr zurück.

Die Stufen zu Fass und Hohepriesterin bewältigte sie nur auf allen vieren. Doch was zuvor eine unendliche Schande gewesen wäre, bedeutete nichts. Und so wie Torokaha dies erkannt hatte, erkannte es das Volk. Stumm sah es zu. Hier wählte ein Gott seine Prophetin, und nichts konnte diesen heiligen Moment entweihen.

Als sie das Fass erreicht hatte, zog sie sich an dessen Kante hoch. »Dieses Fass ist ein Zeichen«, rief sie, und drei der vier Herolde waren an ihren Trichtern, verbreiteten die Worte. »Ein Fluch für die, die Dunkel in sich trägt«, sie vermied einen Blick auf die am Boden liegende Kaïkopura, »doch ein Geschenk für jede, die reinen Herzens ist.« Obwohl sie nicht wusste, welcher Art das Zeichen war, wusste sie doch, dass sie die Wahrheit sprach. Trotz ihres Knöchel stand sie aufrecht, blickte auf die Menschenmenge, die sie umringte, ließ ihr Auge schweifen von Gesicht zu Gesicht, und die Hoffnung, die sie sah, schenkte ihr eine bebende Kraft. »Wir sind nichts, wenn wir nicht glauben«, sagte sie. »In diesem Fass sollt ihr erkennen, dass ich die Erwählte des Gottes bin.« Ja, sie wusste, dass sie es war. Sie sah zu den Kerlen mit dem Werkzeug. »Öffnet es.«