38. Kapitel
Nachdem sie aus dem unteren Schacht geklettert waren, ließ sich Kohatu von einem der Arbeiter ein Seil geben und fesselte dem Schamanen die Hände auf den Rücken. Der Schamane wehrte sich nicht. Sie packte ihn am Oberarm und führte ihn zum Käfig. Sie war allein mit ihm, die Gardisten waren bei der Hohepriesterin geblieben.
Schweigend warteten sie, während der Käfig in die Höhe ratterte. Oben trafen sie auf den Grabungsmeister mit mehreren Begleitern und Truhen voller Werkzeug. Er fragte irgendetwas, aber in Kohatus Kopf war nur Rauschen. Einige ihrer Wachen eilten herbei, erwarteten Befehle, sie schickte sie zurück auf ihre Posten. Die verstohlenen Blicke der Arbeiter nahm sie wahr, ohne sie weiter zu beachten.
Endlich, sie hatten bereits den Rand des Lagers erreicht, brach der Schamane das Schweigen. »Wo bringt Ihr mich hin?«
Kohatu antwortete nicht. Weg brachte sie ihn, aus dem Sichtfeld der anderen, nur weg. Sie konnte keine Zeugen brauchen. Sie redete sich ein, dass sie den Besitzlosen das Schauspiel ersparen wollte, wie ein Schamane erschlagen wurde. Aber es war nur schnöder Eigensinn – sie wäre es, vor der man in Grauen zurückweichen würde, sähe man das heilige Blut an ihren Händen. Und wenn sie ehrlich war, glaubte sie nicht, dass sie in der Lage gewesen wäre, vor den Augen ihrer Truppe den Befehl der Hohepriesterin auszuführen.
Über hunderte Schritt steinige Hügellandschaft führte sie ihn. Die wenigen Bäume, die es hier gegeben hatte, waren fast alle gefällt worden. Denen, die man verschont hatte, hatte der Herbst das meiste Blattwerk vom Geäst geblasen, nur die Nadelbäume standen voll und stolz. An einem haushohen Felsbrocken blieb der Schamane stehen. »Wir sind weit genug weg, niemand wird Euch sehen. Bringen wir es hinter uns.«
Er sagte es mit einer Kälte, die Kohatu das Blut in den Adern gefrieren ließ. Hätte er versucht, sie anzugreifen oder zu fliehen – es wäre leichter gewesen. Die Todesverachtung in seinem Blick hatte Kohatu bereits einmal erlebt, auf dem Blutgerüst, als Königin Hua ihr befohlen hatte, die Gefallene Mahuika zu richten. Und wie damals schien es ihr, als fürchtete sie selbst sich um ein Vielfaches mehr vor der Tat als ihr Gegenüber.
Das Schwert ziehen, den Schlag führen, sie hatte es tausendfach geübt, es war so einfach. Dennoch zögerte sie. »Es ist alles nur ein Spiel, nicht wahr?«
Der Schamane sah sie nicht an. Schob mit seinem Fuß eine Eichel neben eine andere.
»Die Götter fühlen nicht mit uns, oder?« Eine verzweifelte Wut stieg in ihr auf. »Wir sind nur Figuren auf ihrem Brett, nur geschaffen, um die göttliche Langeweile zu vertreiben.« Mit jedem Wort wuchs die Wut, doch Kohatu konnte nicht aufhören. »Gesteh es.« Sie stieß den Schamanen, dass er zu Boden geschleudert wurde. Gefesselt, wie er war, hatte er keine Möglichkeit, sich abzufangen. »Gesteh es! Wir sind nicht Atua-Kores auserwähltes Volk, wir sind nur ihr Spielball.« Sie trat ihn in die Seite. Die Wut war überwältigend. All ihre Selbstbeherrschung, über Jahrzehnte vervollkommnet, hatte sich aufgelöst. »Du hast es gewusst. Du als einziger hast es gewusst. Hast uns gesehen, wie wir uns voller Hochmut in die Brust werfen, wie wir große Reden schwingen und glauben, die Welt zu beherrschen.« Wieder trat sie zu, der Zorn musste heraus. »Nichts beherrschen wir, nichts. Wir sind Abschaum, Würmer, Rattenkot. Schlimmer als das – sind unfähig zu erkennen, wir erbärmlich wir uns selbst belügen.«
Der Schamane krümmte sich am Boden, doch versuchte er kaum, sich vor den Tritten zu schützen, hob nur halbherzig die Hände vors Gesicht.
»Weißt du was? Ich hoffe, dass du recht hast. Dass in diesen gelben Fässern eine Waffe verwahrt ist, gefährlich genug, ein ganzes Volk auszulöschen. Vielleicht wussten die Erbauer, dass die Warnungen nur einfache Menschen abschrecken würden, aber kein stolzes Reich wie Tiratanga. Und wer weiß, vielleicht haben sie es auch genau so geplant. Haben erkannt, dass ein Volk, das niemanden neben sich duldet, vernichtet werden muss – und zwar bevor es die ganze Welt mit sich in den Abgrund zieht.«
Ein blutiges Keuchen bildete die einzige Antwort.
»Deswegen hast du keine Angst vor dem Tod«, fuhr Kohatu fort. »Du weißt, dass keine strafende Gottheit auf dich wartet. Wir werden bereits bestraft, und allesamt unabhängig von unseren Taten. Dieses Leben ist unsere Strafe.«
»Nein«, ächzte der Schamane, »das Leben ist ein Geschenk. Und die Götter spielen nicht mit uns. Aber ein Spiel ist es trotzdem, in diesem Punkt hast du recht.«
»Aber wer spielt, wenn nicht die Götter?«
Der Schamane hustete Blut, wischte es sich am Ärmel seiner Robe ab. »Du weißt es bereits.«
»Kaïkopura.«
»Ja. Und all die anderen Priesterinnen und Satrapanim. Der König von Styrkur Dok und die Weisen von Orofar. Sie alle spielen mit. Der Stolz baut Türme. Gleich, wie hoch sie sind, er kann nicht aufhören, sie höher zu bauen. Und irgendwann müssen sie zusammenfallen.«
Eine plötzliche Schwäche erfasste Kohatu; sie ließ sich gegen einen umgestürzten Baumstamm sinken. »Ich dachte, ich hätte mein Leben in den Dienst der Göttin gestellt. Es war alles falsch.«
Der Schamane richtete seinen Oberkörper auf, schob sich neben sie an den Stamm. »Ich glaube, wir täuschen uns, wenn wir glauben, dass unsere Handlungen unser Leben bedeutsam machen. Es ist umgekehrt. Erst, indem wir erkennen, dass unser Leben bedeutsam ist, finden wir die Kraft zu handeln.«
»Und wie«, lachte Kohatu traurig, »erkenne ich diese Bedeutsamkeit? Mein Leben ist so leer wie der Weinschlauch einer Elenden.«
»Darin liegt ja der Zauber – indem wir Bedeutung in etwas sehen, wird es bedeutsam. Mehr müssen wir nicht tun.«
Sie zupfte eine Zecke von ihrer Wade. »Du bist ein merkwürdiger Mensch, Kidogo.«
Es begann wieder zu schneien. Es war erst früher Nachmittag, doch unter der dichten Wolkendecke schien bereits die Dämmerung eingebrochen. Der Wind kam von Norden, in der Nacht würde es frieren. »Was machen wir jetzt?«, fragte sie.
»Du meinst, die Hinrichtung ist abgeblasen?«
»Ich habe oft genug Blut vergossen. Und nie hat es sich gut angefühlt.« Sie zuckte die Schultern. »Warum sollte es diesmal anders sein?«
Sie ritten sechs Tage und Nächte und stiegen nur von ihren Tieren, wenn der Untergrund zu unsicher wurde oder ihnen vor Erschöpfung die Zügel aus der Hand glitten. Kohatu hatte die vier schnellsten Tiere aus dem Lager geholt und im Zuge dessen ihre besten Reiter auf einen Erkundungsritt geschickt. Die Hohepriesterin war noch immer im Berg gewesen, und sonst gab es niemanden, der die Befehle der Hauptfrau in Frage hätte stellen können. Sobald Kaïkopura jedoch von dem Verrat erführe, würde sie die Jagd eröffnen. Und sie würde wissen, welches Ziel die größte Gefahr für ihre Pläne barg.
Am siebten Tag erreichten sie Ranui.
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Schweigend warteten sie, während der Käfig in die Höhe ratterte. Oben trafen sie auf den Grabungsmeister mit mehreren Begleitern und Truhen voller Werkzeug. Er fragte irgendetwas, aber in Kohatus Kopf war nur Rauschen. Einige ihrer Wachen eilten herbei, erwarteten Befehle, sie schickte sie zurück auf ihre Posten. Die verstohlenen Blicke der Arbeiter nahm sie wahr, ohne sie weiter zu beachten.
Endlich, sie hatten bereits den Rand des Lagers erreicht, brach der Schamane das Schweigen. »Wo bringt Ihr mich hin?«
Kohatu antwortete nicht. Weg brachte sie ihn, aus dem Sichtfeld der anderen, nur weg. Sie konnte keine Zeugen brauchen. Sie redete sich ein, dass sie den Besitzlosen das Schauspiel ersparen wollte, wie ein Schamane erschlagen wurde. Aber es war nur schnöder Eigensinn – sie wäre es, vor der man in Grauen zurückweichen würde, sähe man das heilige Blut an ihren Händen. Und wenn sie ehrlich war, glaubte sie nicht, dass sie in der Lage gewesen wäre, vor den Augen ihrer Truppe den Befehl der Hohepriesterin auszuführen.
Über hunderte Schritt steinige Hügellandschaft führte sie ihn. Die wenigen Bäume, die es hier gegeben hatte, waren fast alle gefällt worden. Denen, die man verschont hatte, hatte der Herbst das meiste Blattwerk vom Geäst geblasen, nur die Nadelbäume standen voll und stolz. An einem haushohen Felsbrocken blieb der Schamane stehen. »Wir sind weit genug weg, niemand wird Euch sehen. Bringen wir es hinter uns.«
Er sagte es mit einer Kälte, die Kohatu das Blut in den Adern gefrieren ließ. Hätte er versucht, sie anzugreifen oder zu fliehen – es wäre leichter gewesen. Die Todesverachtung in seinem Blick hatte Kohatu bereits einmal erlebt, auf dem Blutgerüst, als Königin Hua ihr befohlen hatte, die Gefallene Mahuika zu richten. Und wie damals schien es ihr, als fürchtete sie selbst sich um ein Vielfaches mehr vor der Tat als ihr Gegenüber.
Das Schwert ziehen, den Schlag führen, sie hatte es tausendfach geübt, es war so einfach. Dennoch zögerte sie. »Es ist alles nur ein Spiel, nicht wahr?«
Der Schamane sah sie nicht an. Schob mit seinem Fuß eine Eichel neben eine andere.
»Die Götter fühlen nicht mit uns, oder?« Eine verzweifelte Wut stieg in ihr auf. »Wir sind nur Figuren auf ihrem Brett, nur geschaffen, um die göttliche Langeweile zu vertreiben.« Mit jedem Wort wuchs die Wut, doch Kohatu konnte nicht aufhören. »Gesteh es.« Sie stieß den Schamanen, dass er zu Boden geschleudert wurde. Gefesselt, wie er war, hatte er keine Möglichkeit, sich abzufangen. »Gesteh es! Wir sind nicht Atua-Kores auserwähltes Volk, wir sind nur ihr Spielball.« Sie trat ihn in die Seite. Die Wut war überwältigend. All ihre Selbstbeherrschung, über Jahrzehnte vervollkommnet, hatte sich aufgelöst. »Du hast es gewusst. Du als einziger hast es gewusst. Hast uns gesehen, wie wir uns voller Hochmut in die Brust werfen, wie wir große Reden schwingen und glauben, die Welt zu beherrschen.« Wieder trat sie zu, der Zorn musste heraus. »Nichts beherrschen wir, nichts. Wir sind Abschaum, Würmer, Rattenkot. Schlimmer als das – sind unfähig zu erkennen, wir erbärmlich wir uns selbst belügen.«
Der Schamane krümmte sich am Boden, doch versuchte er kaum, sich vor den Tritten zu schützen, hob nur halbherzig die Hände vors Gesicht.
»Weißt du was? Ich hoffe, dass du recht hast. Dass in diesen gelben Fässern eine Waffe verwahrt ist, gefährlich genug, ein ganzes Volk auszulöschen. Vielleicht wussten die Erbauer, dass die Warnungen nur einfache Menschen abschrecken würden, aber kein stolzes Reich wie Tiratanga. Und wer weiß, vielleicht haben sie es auch genau so geplant. Haben erkannt, dass ein Volk, das niemanden neben sich duldet, vernichtet werden muss – und zwar bevor es die ganze Welt mit sich in den Abgrund zieht.«
Ein blutiges Keuchen bildete die einzige Antwort.
»Deswegen hast du keine Angst vor dem Tod«, fuhr Kohatu fort. »Du weißt, dass keine strafende Gottheit auf dich wartet. Wir werden bereits bestraft, und allesamt unabhängig von unseren Taten. Dieses Leben ist unsere Strafe.«
»Nein«, ächzte der Schamane, »das Leben ist ein Geschenk. Und die Götter spielen nicht mit uns. Aber ein Spiel ist es trotzdem, in diesem Punkt hast du recht.«
»Aber wer spielt, wenn nicht die Götter?«
Der Schamane hustete Blut, wischte es sich am Ärmel seiner Robe ab. »Du weißt es bereits.«
»Kaïkopura.«
»Ja. Und all die anderen Priesterinnen und Satrapanim. Der König von Styrkur Dok und die Weisen von Orofar. Sie alle spielen mit. Der Stolz baut Türme. Gleich, wie hoch sie sind, er kann nicht aufhören, sie höher zu bauen. Und irgendwann müssen sie zusammenfallen.«
Eine plötzliche Schwäche erfasste Kohatu; sie ließ sich gegen einen umgestürzten Baumstamm sinken. »Ich dachte, ich hätte mein Leben in den Dienst der Göttin gestellt. Es war alles falsch.«
Der Schamane richtete seinen Oberkörper auf, schob sich neben sie an den Stamm. »Ich glaube, wir täuschen uns, wenn wir glauben, dass unsere Handlungen unser Leben bedeutsam machen. Es ist umgekehrt. Erst, indem wir erkennen, dass unser Leben bedeutsam ist, finden wir die Kraft zu handeln.«
»Und wie«, lachte Kohatu traurig, »erkenne ich diese Bedeutsamkeit? Mein Leben ist so leer wie der Weinschlauch einer Elenden.«
»Darin liegt ja der Zauber – indem wir Bedeutung in etwas sehen, wird es bedeutsam. Mehr müssen wir nicht tun.«
Sie zupfte eine Zecke von ihrer Wade. »Du bist ein merkwürdiger Mensch, Kidogo.«
Es begann wieder zu schneien. Es war erst früher Nachmittag, doch unter der dichten Wolkendecke schien bereits die Dämmerung eingebrochen. Der Wind kam von Norden, in der Nacht würde es frieren. »Was machen wir jetzt?«, fragte sie.
»Du meinst, die Hinrichtung ist abgeblasen?«
»Ich habe oft genug Blut vergossen. Und nie hat es sich gut angefühlt.« Sie zuckte die Schultern. »Warum sollte es diesmal anders sein?«
Sie ritten sechs Tage und Nächte und stiegen nur von ihren Tieren, wenn der Untergrund zu unsicher wurde oder ihnen vor Erschöpfung die Zügel aus der Hand glitten. Kohatu hatte die vier schnellsten Tiere aus dem Lager geholt und im Zuge dessen ihre besten Reiter auf einen Erkundungsritt geschickt. Die Hohepriesterin war noch immer im Berg gewesen, und sonst gab es niemanden, der die Befehle der Hauptfrau in Frage hätte stellen können. Sobald Kaïkopura jedoch von dem Verrat erführe, würde sie die Jagd eröffnen. Und sie würde wissen, welches Ziel die größte Gefahr für ihre Pläne barg.
Am siebten Tag erreichten sie Ranui.