37. Kapitel
Kaïkopura wusste nicht, wohin mit ihrer Zeit. Sie betete, sie aß, sie schlief ein paar Stunden, sie warf die Münzen, sie ließ sich von den Grabungsmeistern den Fortschritt schildern, doch alle Zerstreuung half nichts – unendlich langsam glitt Atua-Kores Auge den Himmel entlang. In den Nächten lag sie wach und lauschte auf die Rufe der Arbeiter und das Schnaufen der Ochsen. Gegen Kohatus Willen hatte sie darauf bestanden, direkt am Schacht ihr Lager aufzuschlagen; so bald wie möglich wollte sie es mitbekommen, falls eine Entdeckung gemacht wurde.
Es begann zu schneien. Mehrmals die Nacht musste ihre Dienerin die Kohlepfannen nachfüllen. Nie zuvor hatte Kaïkopura Ranui verlassen. Wie nur hatte es geschehen können, dass ein Bergriese von diesem verlassenen Flecken Fels die Macht erlangt hatte, die Goldene herauszufordern? Bevor der Winter in vollem Zorn von den Nebelzinnen herunterstürmen würde, musste der Sarg Alateons geöffnet sein. Jeden Morgen trieb Kaïkopura die Grabungsmeister zu mehr Eile an, doch es fruchtete nichts. Zu hartes Gestein, das nicht zu sprengen war, zu weiches Gestein, das vermehrte Stützen erforderte, Wassereinbrüche, zerstörtes Werkzeug – immer neue Ausreden fanden die Elenden, warum es unten in der Tiefe nicht schneller voranging. In der kohleglimmenden Einsamkeit ihrer Nächte entwickelte Kaïkopura den Gedanken, einen der Meister öffentlich erschlagen zu lassen, als Mahnung für die anderen. Erschrocken rang sie den Einfall nieder. Sie war kein Schneckenfleisch wie Amokapua, aber sie war auch keine Schlächterin wie Sokai. Richte deinen Zorn gegen die Starken, sagten die Heiligen Schriften, und du wirst wachsen. Richte deinen Zorn gegen die Schwachen, und du wirst bald eine von ihnen sein.
An dem Tag, an dem die Grabungsmeister verkündeten, das Ende der Platte erreicht zu haben, fiel der Schnee in schweren, feuchten Flocken. Ohne Schirm eilte Kaïkopura den Meistern entgegen – was bedeutete schon nasses Haar, wenn es einen Gott zu erschlagen galt. Und welch süße Nachricht brachten die dreckverschmierten Männer! Ja, man lasse bereits nach unten graben. Ja, die Platte sei nur einen halben Schritt dick, ja, schon am nächsten Tage werde man unter sie gelangen und herausfinden, was sich dort befinde.
In atemloser Aufregung warf Kaïkopura die Münzen – sie fielen günstig. Unfähig, in ihrem Zelt zu warten, eilte sie ziellos durchs Lager, schmeckte den Schnee auf der Zunge, spürte ihn auf den Schultern. Blickte blinzelnd zu den Gipfeln der Nebelzinnen hinauf und spürte beglückt, was sie seit der erbärmlichen Nacht im dritten Ring vermisst hatte: das Wissen, den Segen der Göttin zu genießen.
Und der nächste Tag bewies, dass ihr Gefühl sie nicht getrogen hatte. Es war ein Durchbruch in die Grabkammer Alateons gelungen.
Mit bebendem Herzen wartete sie, während ihre Dienerin sie in die goldbestickte Festrobe kleidete und ihr die Haare richtete. Nachdem sie die Dienerin nach Kohatu ausgesandt hatte, setzte sie sich an ihren Schminktisch und griff nach den Farben der Erlösung: gelb für das Licht, blau für das Leben, grün für die Kraft. Gewöhnlich waren die Farben den Großen Ritualen vorbehalten – aber Kaïkopura war entschlossen, Alateon mit der geballten Macht ihrer Göttin gegenüberzutreten. Mit Fingern, deren Ruhe kaum ihrem aufgewühlten Inneren entsprach, malte sie sich die magischen Zeichen auf Wangen und Stirn.
Als sie das Zelt verließ, hielten die Arbeiter in ihren Tätigkeiten inne, fielen auf die Knie, selbst die Garde drehte den Kopf. Hier, mitten unter ihnen, wandelte der Mund Atua-Kores, und dies war kein leerer Titel. Kaïkopura war die Gesandte der Göttin, und wer die Augen öffnete, der konnte es sehen.
Bei den Holzaufbauten wartete Kohatu. Als Kaïkopura neben der Hauptfrau Kidogo entdeckte, zuckte Widerwille in ihr auf. Aber sie musste zugeben, der Knochenbrecher war klug, vielleicht könnte er ihr von Nutzen sein. Und noch wichtiger – er sollte Zeuge werden von der Macht der einzig wahren Göttin. Begleitet von ihrer Leibwache trat sie auf die Holzaufbauten zu, vor ihnen drehte sie sich um. Hundert Augenpaare warteten ehrfurchtsvoll auf ihren Befehl.
»Jeden Morgen öffnet Atua-Kore ihr Auge«, gab sie den ersten Satz der Heiligen Schriften wieder, »und die Welt wird licht. Jeden Abend schließt Atua-Kore ihr Auge, und die Welt wird finster. Doch wer das Licht der Göttin in sein Herz lässt, dem leuchtet es selbst in der dunkelsten Stunde der Nacht.« Während das Volk noch in stummem Gebet zu Boden sah, wandte sie sich ab, betrat den Käfig. Wie beim ersten Mal folgten ihre Leibwache, Kohatu und Kidogo. Auch der Grabungsmeister war derselbe. Wieder erschollen die Rufe der Ochsentreiber, wieder setzte der Käfig sich ratternd in Bewegung. Wie bange hatte sie diesem Augenblick entgegengesehen. Doch jetzt, geschützt durch die Zeichen der Göttin und im Wissen um das Licht, in dem sie wandelte, empfand sie nichts als Dankbarkeit. Die Goldene Göttin war das reinigende Feuer – und sie, Kaïkopura, war der Funke.
Rumpelnd setzte der Käfig unten auf. Der Grubenmeister wies den Weg, gemessenen Schritts folgte sie ihm. Der Gang war schmal und der schwarze Boden mit Geröll übersät. Um den Saum zu schützen, raffte Kaïkopura ihre Robe. Nach einer Minute erreichten sie das Ende des Ganges, ein Schacht führte zwei Schritt in die Tiefe. Unten standen zwei Arbeiter und wichen erschrocken an die Wand zurück, als sie die Hohepriesterin erkannten.
»Wie komme ich dort hinunter?«
Der Grabungsmeister deutete auf eine Leiter.
Kaïkopura atmete tief durch. An alles hatte sie gedacht – aber eine Leiter?
»Wir können Euch auch an einer Seilschlinge hinunterlassen«, murmelte der Meister, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte.
Nun, das würde wohl auch kein würdigeres Bild abgeben. Kaïkopura entschied sich für das geringere Übel und griff nach der obersten Sprosse. Trotz der engen Robe erreichte sie unbeschadet den Grund. Erleichtert nickte sie den beiden Arbeitern zu, die sich daraufhin nur noch fester gegen die Wand drückten, überfordert von dem unangebracht formlosen Gruß.
Auf der gegenüberliegenden Seite war ein Spalt im Gestein zu erkennen. »Hier?«, fragte sie nach oben.
Der Grabungsmeister war bereits halb zu ihr heruntergeklettert. »Ja. Durch den Spalt gelangt man in einen Hohlraum. Direkt unter der Platte.«
»War schon jemand dort?«
»Nein, Eure Heiligkeit.«
»Er ist zu klein.«
»Verzeiht?«
»Der Spalt – er ist zu klein.«
»Er sollte reichen, um ...« Als er ihren Blick sah, beendete er seinen Satz nicht, fragte stattdessen hastig: »Soll ich ihn erweitern lassen?«
Kaïkopura seufzte. »Nein, schon gut.« Mit mulmigem Gefühl trat sie an den Spalt heran. Es war möglich, sich hindurchzuzwängen, keine Frage. Aber ihr graute bei dem Gedanken, wie ihre Robe danach aussehen würde. Sie war nicht eitel, das nicht, aber eine Priesterin musste Erhabenheit ausstrahlen, wie sollte sie mit einem schmutzigen Kleid an die Oberfläche zurückkehren, was würde das Volk denken?
»Gibt es ein Problem?«, fragte Kohatu, die plötzlich neben ihr stand.
»Die Robe ...«
»Du kannst nicht nach dem Dunkel greifen« ertönte von oben die Stimme des Knochenbrechers, »ohne dass es dich berührt.«
»Du kennst die Heiligen Schriften?«, fragte Kaïkopura erstaunt.
»Noch ist es nicht zu spät, umzukehren. Verschließt den Spalt, verschüttet den Schacht. Lasst den Riesen schlafen.«
Womöglich war es gar nicht so schlimm, wenn ihre Robe Schaden nahm. Ein Zeichen dafür, dass der Kampf nicht leicht gewesen, dass ein großer Gott bezwungen worden war. Sie winkte Kohatu. »Du zuerst.«
Die Hauptfrau ließ sich von einem der Arbeiter eine Laterne reichen, dann glitt sie durch den Spalt, trotz ihrer Größe und der Rüstung so geschmeidig wie eine Echse.
»Was siehst du?«, rief Kaïkopura.
»Eine Wand«, erklang es dumpf zurück. »Aber sie scheint nicht glatt zu sein. Das Licht reicht nicht weit genug. Soll ich näher hin?«
»Warte.« Vorsichtig betastete sie die Kanten des Spalts. Setzte den vorderen Fuß hinein, die Robe spannte, Dreck rieselte ihr in den Nacken. Schnell zog sie den zweiten Fuß nach, den Blick stur auf das Licht auf der anderen Seite gerichtet, ein letzter Ruck, sie war durch die engste Stelle hindurch, erleichtert machte sie den letzten Schritt, da ratschte es, die Robe war gerissen.
»Triefende Finsternis«, fluchte sie – und sah erschrocken zu Kohatu auf. Niemand, der im Licht Atua-Kores wandeln wollte, sollte solche Worte äußern, geschweige denn eine Hohepriesterin. Doch die Hauptfrau hielt ausdruckslos ihre Lampe, hatte den Fluch also nicht gehört oder war klug genug, zumindest so zu tun.
»Leuchte mir«, befahl Kaïkopura und überprüfte ihr Kleid. Der Riss reichte bis zur Hälfte des Unterschenkels. Diesmal verkniff sie sich den Fluch auf ihren Lippen.
»Habt Ihr Euch verletzt?«, fragte der Knochenbrecher, der soeben aus dem Spalt trat.
»Nein, nein.« Sie richtete sich auf, sah sich um. »Wo ist also diese Wand, von der du gesprochen hast?«
Die Hauptfrau hob ihre Laterne und ging tiefer in den Raum hinein. Während die Seiten aus kahlem Stein bestanden, begannen die Schatten vor ihnen eine bauchige Wellenlinie zu bilden, die mehrfach gestuft war.
»Was ist das?«, fragte Kaïkopura, während sie mit geraffter Robe der Hauptfrau folgte. Die Luft roch abgestanden.
»Es ist gelb«, sagte die Hauptfrau. »Die Wand ist gelb.«
»Es ist keine Wand«, sagte der Knochenbrecher, »es sind Fässer.«
»Fässer ...?« Doch jetzt sah sie es auch; dicht an dicht waren sie aufgereiht und viele Schritt hoch übereinandergestapelt. Es mussten Hunderte, Tausende sein.
»Es sind Zeichen darauf«, bemerkte die Hauptfrau. Die Laterne vor sich haltend, trat sie näher an die Wand heran. Sie hatte recht, es waren Zeichen zu erkennen, fein säuberlich auf jedes einzelne der Fässer gemalt. Stets zwei verschiedene waren es, und als Kaïkopura sie erkannte, wurden ihre Beine so weich, dass sie beinahe in die Knie gegangen wäre. Das eine Zeichen war das des göttlichen Dreiklangs. Und das andere zeigte mit unwirklicher Genauigkeit den Schädel eines Menschen.
»Geht es Euch gut, Herrin?«, hörte sie tonlos die Worte der Hauptfrau.
»Alateon«, flüsterte sie. »Er hat die Seelen der Menschen in diese Fässer gebannt, damit sie seine Schlafstatt schützen.«
»Was für ein Unsinn.«
Der Schamane – sie fuhr zu ihm herum: »Wie wagst du es, mit mir zu sprechen?!«
Zu ihrem Zorn zeigte er sich nicht im Mindesten eingeschüchtert. »Woher rührt nur dieser Glaube, dass Götter Menschen brauchen für ihren Schutz? Seid ehrlich zu Euch selbst, Hohepriesterin – Atua-Kore braucht Ranui nicht, Ranui braucht Atua-Kore.«
»Frevler, spar dir dein Gift.«
»Ihr denkt, ich bin Euer Feind, aber Ihr täuscht Euch. Ich habe nur Angst, dass Ihr Kräfte entfesselt, denen Ihr nicht gewachsen seid.«
Nun platzte ihr endgültig der Kragen. »Du Schmeißfliege, du elende. Also gibst du offen zu, dass du Alateon dienst!«
»Es gibt keinen Alateon, verdammt.« Der Knochenbrecher wurde nun selbst laut. »Aki und ich haben ihn erfunden. Ich dachte, das war Euch klar – aber langsam beginne ich zu zweifeln. Fässer voller Seelen?« Er deutete auf die gelbe Wand. »Der Körper begrenzt den Geist, doch die Seele fängt er nicht ein – so heißt es doch in Euren Heiligen Schriften. Euer eigener Glaube beschreibt die Seele als den Teil des Lebendigen, der nicht gefangen gehalten werden kann. Ich sage Euch, diese Fässer sind menschengemacht. Von Menschen befüllt, von Menschen hierhergeschleppt, von Menschen vergraben. Und diese Menschen wussten mehr über die Welt, als wir es jemals tun werden, denkt nur an die Dornensäulen, an die Würfel. Sie sind trotzdem vom Erdboden verschwunden, und kein Gott war da, um sie zu retten. Aber bevor sie untergegangen sind, haben sie etwas geschaffen, vor dem sie eine solche Angst hatten, dass sie es hier, in dieser gottlosen Tiefe verborgen haben.«
»Und was?«
»Eine Waffe vielleicht, ein Gift, ich weiß es nicht – aber was ich weiß, ist, dass sie keine Mühen gescheut haben, uns zu warnen. Seht Euch nur die Totenschädel an.«
Zunehmend betroffen hatte Kaïkopura den wütenden Erguss des Knochenbrechers verfolgt. »Vielleicht ist es, wie du sagst«, gestand sie, als er geendet hatte. Sie rief nach dem Grabungsmeister, der jenseits des Spalts gewartet hatte. Als er vor ihr stand, befahl sie: »Öffnet die Fässer.«
Der Mann trat an eines heran, musterte es. »Ich werde Werkzeug brauchen.«
»Dann hol es dir, Nichtswürdiger.«
»Sehr wohl«, er rannte davon.
»Der Inhalt dieser Fässer mag verantwortlich für den Untergang der Erbauer gewesen sein«, sagte der Knochenbrecher. »Wenn Ihr sie öffnen lasst, beschwört ihr dasselbe Schicksal auf Ranui hinab.«
»Du hältst dich für klug, aber du verstehst nichts.« Sie packte ihn am Ausschnitt seiner Robe. »Glaubst du, es spielt eine Rolle, ob Alateon wacht, schläft oder nur eine Erfindung deines Schafhirns ist? Das Volk glaubt an seine Macht. Und im selben Maße, in dem es überzeugter von ihm wird, verblasst das Licht Atua-Kores. Du hast es selbst gesagt: Ranui braucht seine Göttin. Ohne sie werden Feuer und Tod über die Stadt kommen, genau, wie die Gefallene es vorhergesehen hat – ganz gleich, ob Alateon sich einen feuchten Dreck um Ranui schert oder nicht.«
»Ich sage Euch, Ihr könnt nicht ...«
»Hauptfrau, töte ihn.«
»Eure Heiligkeit«, Kohatus Stimme war tonlos, »er steht unter dem Schutz der Königin.«
»Aber dieselbe Königin hat dir aufgetragen, mir in allem zu Willen zu sein – oder täusche ich mich?«
»Nein, Herrin, aber ...«
»Du hast ihn gehört, er macht keinen Hehl aus seiner Verachtung für Atua-Kore. Töte ihn oder geh in die Finsternis.«
»Wie Ihr befehlt, Herrin.«
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Kaïkopura wusste nicht, wohin mit ihrer Zeit. Sie betete, sie aß, sie schlief ein paar Stunden, sie warf die Münzen, sie ließ sich von den Grabungsmeistern den Fortschritt schildern, doch alle Zerstreuung half nichts – unendlich langsam glitt Atua-Kores Auge den Himmel entlang. In den Nächten lag sie wach und lauschte auf die Rufe der Arbeiter und das Schnaufen der Ochsen. Gegen Kohatus Willen hatte sie darauf bestanden, direkt am Schacht ihr Lager aufzuschlagen; so bald wie möglich wollte sie es mitbekommen, falls eine Entdeckung gemacht wurde.
Es begann zu schneien. Mehrmals die Nacht musste ihre Dienerin die Kohlepfannen nachfüllen. Nie zuvor hatte Kaïkopura Ranui verlassen. Wie nur hatte es geschehen können, dass ein Bergriese von diesem verlassenen Flecken Fels die Macht erlangt hatte, die Goldene herauszufordern? Bevor der Winter in vollem Zorn von den Nebelzinnen herunterstürmen würde, musste der Sarg Alateons geöffnet sein. Jeden Morgen trieb Kaïkopura die Grabungsmeister zu mehr Eile an, doch es fruchtete nichts. Zu hartes Gestein, das nicht zu sprengen war, zu weiches Gestein, das vermehrte Stützen erforderte, Wassereinbrüche, zerstörtes Werkzeug – immer neue Ausreden fanden die Elenden, warum es unten in der Tiefe nicht schneller voranging. In der kohleglimmenden Einsamkeit ihrer Nächte entwickelte Kaïkopura den Gedanken, einen der Meister öffentlich erschlagen zu lassen, als Mahnung für die anderen. Erschrocken rang sie den Einfall nieder. Sie war kein Schneckenfleisch wie Amokapua, aber sie war auch keine Schlächterin wie Sokai. Richte deinen Zorn gegen die Starken, sagten die Heiligen Schriften, und du wirst wachsen. Richte deinen Zorn gegen die Schwachen, und du wirst bald eine von ihnen sein.
An dem Tag, an dem die Grabungsmeister verkündeten, das Ende der Platte erreicht zu haben, fiel der Schnee in schweren, feuchten Flocken. Ohne Schirm eilte Kaïkopura den Meistern entgegen – was bedeutete schon nasses Haar, wenn es einen Gott zu erschlagen galt. Und welch süße Nachricht brachten die dreckverschmierten Männer! Ja, man lasse bereits nach unten graben. Ja, die Platte sei nur einen halben Schritt dick, ja, schon am nächsten Tage werde man unter sie gelangen und herausfinden, was sich dort befinde.
In atemloser Aufregung warf Kaïkopura die Münzen – sie fielen günstig. Unfähig, in ihrem Zelt zu warten, eilte sie ziellos durchs Lager, schmeckte den Schnee auf der Zunge, spürte ihn auf den Schultern. Blickte blinzelnd zu den Gipfeln der Nebelzinnen hinauf und spürte beglückt, was sie seit der erbärmlichen Nacht im dritten Ring vermisst hatte: das Wissen, den Segen der Göttin zu genießen.
Und der nächste Tag bewies, dass ihr Gefühl sie nicht getrogen hatte. Es war ein Durchbruch in die Grabkammer Alateons gelungen.
Mit bebendem Herzen wartete sie, während ihre Dienerin sie in die goldbestickte Festrobe kleidete und ihr die Haare richtete. Nachdem sie die Dienerin nach Kohatu ausgesandt hatte, setzte sie sich an ihren Schminktisch und griff nach den Farben der Erlösung: gelb für das Licht, blau für das Leben, grün für die Kraft. Gewöhnlich waren die Farben den Großen Ritualen vorbehalten – aber Kaïkopura war entschlossen, Alateon mit der geballten Macht ihrer Göttin gegenüberzutreten. Mit Fingern, deren Ruhe kaum ihrem aufgewühlten Inneren entsprach, malte sie sich die magischen Zeichen auf Wangen und Stirn.
Als sie das Zelt verließ, hielten die Arbeiter in ihren Tätigkeiten inne, fielen auf die Knie, selbst die Garde drehte den Kopf. Hier, mitten unter ihnen, wandelte der Mund Atua-Kores, und dies war kein leerer Titel. Kaïkopura war die Gesandte der Göttin, und wer die Augen öffnete, der konnte es sehen.
Bei den Holzaufbauten wartete Kohatu. Als Kaïkopura neben der Hauptfrau Kidogo entdeckte, zuckte Widerwille in ihr auf. Aber sie musste zugeben, der Knochenbrecher war klug, vielleicht könnte er ihr von Nutzen sein. Und noch wichtiger – er sollte Zeuge werden von der Macht der einzig wahren Göttin. Begleitet von ihrer Leibwache trat sie auf die Holzaufbauten zu, vor ihnen drehte sie sich um. Hundert Augenpaare warteten ehrfurchtsvoll auf ihren Befehl.
»Jeden Morgen öffnet Atua-Kore ihr Auge«, gab sie den ersten Satz der Heiligen Schriften wieder, »und die Welt wird licht. Jeden Abend schließt Atua-Kore ihr Auge, und die Welt wird finster. Doch wer das Licht der Göttin in sein Herz lässt, dem leuchtet es selbst in der dunkelsten Stunde der Nacht.« Während das Volk noch in stummem Gebet zu Boden sah, wandte sie sich ab, betrat den Käfig. Wie beim ersten Mal folgten ihre Leibwache, Kohatu und Kidogo. Auch der Grabungsmeister war derselbe. Wieder erschollen die Rufe der Ochsentreiber, wieder setzte der Käfig sich ratternd in Bewegung. Wie bange hatte sie diesem Augenblick entgegengesehen. Doch jetzt, geschützt durch die Zeichen der Göttin und im Wissen um das Licht, in dem sie wandelte, empfand sie nichts als Dankbarkeit. Die Goldene Göttin war das reinigende Feuer – und sie, Kaïkopura, war der Funke.
Rumpelnd setzte der Käfig unten auf. Der Grubenmeister wies den Weg, gemessenen Schritts folgte sie ihm. Der Gang war schmal und der schwarze Boden mit Geröll übersät. Um den Saum zu schützen, raffte Kaïkopura ihre Robe. Nach einer Minute erreichten sie das Ende des Ganges, ein Schacht führte zwei Schritt in die Tiefe. Unten standen zwei Arbeiter und wichen erschrocken an die Wand zurück, als sie die Hohepriesterin erkannten.
»Wie komme ich dort hinunter?«
Der Grabungsmeister deutete auf eine Leiter.
Kaïkopura atmete tief durch. An alles hatte sie gedacht – aber eine Leiter?
»Wir können Euch auch an einer Seilschlinge hinunterlassen«, murmelte der Meister, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte.
Nun, das würde wohl auch kein würdigeres Bild abgeben. Kaïkopura entschied sich für das geringere Übel und griff nach der obersten Sprosse. Trotz der engen Robe erreichte sie unbeschadet den Grund. Erleichtert nickte sie den beiden Arbeitern zu, die sich daraufhin nur noch fester gegen die Wand drückten, überfordert von dem unangebracht formlosen Gruß.
Auf der gegenüberliegenden Seite war ein Spalt im Gestein zu erkennen. »Hier?«, fragte sie nach oben.
Der Grabungsmeister war bereits halb zu ihr heruntergeklettert. »Ja. Durch den Spalt gelangt man in einen Hohlraum. Direkt unter der Platte.«
»War schon jemand dort?«
»Nein, Eure Heiligkeit.«
»Er ist zu klein.«
»Verzeiht?«
»Der Spalt – er ist zu klein.«
»Er sollte reichen, um ...« Als er ihren Blick sah, beendete er seinen Satz nicht, fragte stattdessen hastig: »Soll ich ihn erweitern lassen?«
Kaïkopura seufzte. »Nein, schon gut.« Mit mulmigem Gefühl trat sie an den Spalt heran. Es war möglich, sich hindurchzuzwängen, keine Frage. Aber ihr graute bei dem Gedanken, wie ihre Robe danach aussehen würde. Sie war nicht eitel, das nicht, aber eine Priesterin musste Erhabenheit ausstrahlen, wie sollte sie mit einem schmutzigen Kleid an die Oberfläche zurückkehren, was würde das Volk denken?
»Gibt es ein Problem?«, fragte Kohatu, die plötzlich neben ihr stand.
»Die Robe ...«
»Du kannst nicht nach dem Dunkel greifen« ertönte von oben die Stimme des Knochenbrechers, »ohne dass es dich berührt.«
»Du kennst die Heiligen Schriften?«, fragte Kaïkopura erstaunt.
»Noch ist es nicht zu spät, umzukehren. Verschließt den Spalt, verschüttet den Schacht. Lasst den Riesen schlafen.«
Womöglich war es gar nicht so schlimm, wenn ihre Robe Schaden nahm. Ein Zeichen dafür, dass der Kampf nicht leicht gewesen, dass ein großer Gott bezwungen worden war. Sie winkte Kohatu. »Du zuerst.«
Die Hauptfrau ließ sich von einem der Arbeiter eine Laterne reichen, dann glitt sie durch den Spalt, trotz ihrer Größe und der Rüstung so geschmeidig wie eine Echse.
»Was siehst du?«, rief Kaïkopura.
»Eine Wand«, erklang es dumpf zurück. »Aber sie scheint nicht glatt zu sein. Das Licht reicht nicht weit genug. Soll ich näher hin?«
»Warte.« Vorsichtig betastete sie die Kanten des Spalts. Setzte den vorderen Fuß hinein, die Robe spannte, Dreck rieselte ihr in den Nacken. Schnell zog sie den zweiten Fuß nach, den Blick stur auf das Licht auf der anderen Seite gerichtet, ein letzter Ruck, sie war durch die engste Stelle hindurch, erleichtert machte sie den letzten Schritt, da ratschte es, die Robe war gerissen.
»Triefende Finsternis«, fluchte sie – und sah erschrocken zu Kohatu auf. Niemand, der im Licht Atua-Kores wandeln wollte, sollte solche Worte äußern, geschweige denn eine Hohepriesterin. Doch die Hauptfrau hielt ausdruckslos ihre Lampe, hatte den Fluch also nicht gehört oder war klug genug, zumindest so zu tun.
»Leuchte mir«, befahl Kaïkopura und überprüfte ihr Kleid. Der Riss reichte bis zur Hälfte des Unterschenkels. Diesmal verkniff sie sich den Fluch auf ihren Lippen.
»Habt Ihr Euch verletzt?«, fragte der Knochenbrecher, der soeben aus dem Spalt trat.
»Nein, nein.« Sie richtete sich auf, sah sich um. »Wo ist also diese Wand, von der du gesprochen hast?«
Die Hauptfrau hob ihre Laterne und ging tiefer in den Raum hinein. Während die Seiten aus kahlem Stein bestanden, begannen die Schatten vor ihnen eine bauchige Wellenlinie zu bilden, die mehrfach gestuft war.
»Was ist das?«, fragte Kaïkopura, während sie mit geraffter Robe der Hauptfrau folgte. Die Luft roch abgestanden.
»Es ist gelb«, sagte die Hauptfrau. »Die Wand ist gelb.«
»Es ist keine Wand«, sagte der Knochenbrecher, »es sind Fässer.«
»Fässer ...?« Doch jetzt sah sie es auch; dicht an dicht waren sie aufgereiht und viele Schritt hoch übereinandergestapelt. Es mussten Hunderte, Tausende sein.
»Es sind Zeichen darauf«, bemerkte die Hauptfrau. Die Laterne vor sich haltend, trat sie näher an die Wand heran. Sie hatte recht, es waren Zeichen zu erkennen, fein säuberlich auf jedes einzelne der Fässer gemalt. Stets zwei verschiedene waren es, und als Kaïkopura sie erkannte, wurden ihre Beine so weich, dass sie beinahe in die Knie gegangen wäre. Das eine Zeichen war das des göttlichen Dreiklangs. Und das andere zeigte mit unwirklicher Genauigkeit den Schädel eines Menschen.
»Geht es Euch gut, Herrin?«, hörte sie tonlos die Worte der Hauptfrau.
»Alateon«, flüsterte sie. »Er hat die Seelen der Menschen in diese Fässer gebannt, damit sie seine Schlafstatt schützen.«
»Was für ein Unsinn.«
Der Schamane – sie fuhr zu ihm herum: »Wie wagst du es, mit mir zu sprechen?!«
Zu ihrem Zorn zeigte er sich nicht im Mindesten eingeschüchtert. »Woher rührt nur dieser Glaube, dass Götter Menschen brauchen für ihren Schutz? Seid ehrlich zu Euch selbst, Hohepriesterin – Atua-Kore braucht Ranui nicht, Ranui braucht Atua-Kore.«
»Frevler, spar dir dein Gift.«
»Ihr denkt, ich bin Euer Feind, aber Ihr täuscht Euch. Ich habe nur Angst, dass Ihr Kräfte entfesselt, denen Ihr nicht gewachsen seid.«
Nun platzte ihr endgültig der Kragen. »Du Schmeißfliege, du elende. Also gibst du offen zu, dass du Alateon dienst!«
»Es gibt keinen Alateon, verdammt.« Der Knochenbrecher wurde nun selbst laut. »Aki und ich haben ihn erfunden. Ich dachte, das war Euch klar – aber langsam beginne ich zu zweifeln. Fässer voller Seelen?« Er deutete auf die gelbe Wand. »Der Körper begrenzt den Geist, doch die Seele fängt er nicht ein – so heißt es doch in Euren Heiligen Schriften. Euer eigener Glaube beschreibt die Seele als den Teil des Lebendigen, der nicht gefangen gehalten werden kann. Ich sage Euch, diese Fässer sind menschengemacht. Von Menschen befüllt, von Menschen hierhergeschleppt, von Menschen vergraben. Und diese Menschen wussten mehr über die Welt, als wir es jemals tun werden, denkt nur an die Dornensäulen, an die Würfel. Sie sind trotzdem vom Erdboden verschwunden, und kein Gott war da, um sie zu retten. Aber bevor sie untergegangen sind, haben sie etwas geschaffen, vor dem sie eine solche Angst hatten, dass sie es hier, in dieser gottlosen Tiefe verborgen haben.«
»Und was?«
»Eine Waffe vielleicht, ein Gift, ich weiß es nicht – aber was ich weiß, ist, dass sie keine Mühen gescheut haben, uns zu warnen. Seht Euch nur die Totenschädel an.«
Zunehmend betroffen hatte Kaïkopura den wütenden Erguss des Knochenbrechers verfolgt. »Vielleicht ist es, wie du sagst«, gestand sie, als er geendet hatte. Sie rief nach dem Grabungsmeister, der jenseits des Spalts gewartet hatte. Als er vor ihr stand, befahl sie: »Öffnet die Fässer.«
Der Mann trat an eines heran, musterte es. »Ich werde Werkzeug brauchen.«
»Dann hol es dir, Nichtswürdiger.«
»Sehr wohl«, er rannte davon.
»Der Inhalt dieser Fässer mag verantwortlich für den Untergang der Erbauer gewesen sein«, sagte der Knochenbrecher. »Wenn Ihr sie öffnen lasst, beschwört ihr dasselbe Schicksal auf Ranui hinab.«
»Du hältst dich für klug, aber du verstehst nichts.« Sie packte ihn am Ausschnitt seiner Robe. »Glaubst du, es spielt eine Rolle, ob Alateon wacht, schläft oder nur eine Erfindung deines Schafhirns ist? Das Volk glaubt an seine Macht. Und im selben Maße, in dem es überzeugter von ihm wird, verblasst das Licht Atua-Kores. Du hast es selbst gesagt: Ranui braucht seine Göttin. Ohne sie werden Feuer und Tod über die Stadt kommen, genau, wie die Gefallene es vorhergesehen hat – ganz gleich, ob Alateon sich einen feuchten Dreck um Ranui schert oder nicht.«
»Ich sage Euch, Ihr könnt nicht ...«
»Hauptfrau, töte ihn.«
»Eure Heiligkeit«, Kohatus Stimme war tonlos, »er steht unter dem Schutz der Königin.«
»Aber dieselbe Königin hat dir aufgetragen, mir in allem zu Willen zu sein – oder täusche ich mich?«
»Nein, Herrin, aber ...«
»Du hast ihn gehört, er macht keinen Hehl aus seiner Verachtung für Atua-Kore. Töte ihn oder geh in die Finsternis.«
»Wie Ihr befehlt, Herrin.«