34. Kapitel

Pawe kam nicht.

Und das war schlimm. Denn allein Pawes Besuche bewahrten Kidogo vor dem Wahnsinn, der an den finsteren Rändern seines Bewusstseins nagte. In der ewigen Nacht seines Verlieses war es allein Pawes Fackel, deren Aufleuchten das Verstreichen der Tage anzeigte. Der Korb, den sie ihm herunterließ, war mit übrig gebliebenen Speisen der herrschaftlichen Küche gefüllt. Kidogo schlief auf nacktem Fels, doch er speiste wie die Sprecherin des Hohen Rates. Noch dankbarer aber war er darüber, dass Pawe sich, wann immer es ihr möglich war, die Zeit nahm, ein paar Worte mit ihm zu wechseln; Liebesbeziehungen unter den Bediensteten, alltägliche Sorgen, Herausforderungen im Umgang mit der Herrin Sokai, ganz gleich – entscheidend war, eine menschliche Stimme zu hören, zu hören, dass man nicht vergessen war.

Doch Pawe kam nicht mehr. Ohne sie lösten die kraftspendenden Gesetze der Zeit sich auf, und zurückblieb eine Dunkelheit, die keinen Regeln folgte. Hilflos beobachtete Kidogo, wie der Wahnsinn geduldig langsam näher schlich.

Als das Licht kam, wusste er nicht, was es bedeutete. Sein Meister sprach zu ihm, Mahuika griff seine Hand, in der Ferne wälzte sich ein Riese im Schlaf.

»Kidogo.«

Ein Wort, das ihm gehörte. Das ein Name war. Ein Name, der ihn zurückbrachte in eine Welt, die er nur noch schwer als die seine erkennen konnte. Trotzdem gab es sie. Irgendwann traten Formen aus dem Licht; ein Gesicht, ein Arm, eine Hand mit einer Lampe. »Komm herauf.«

Kidogo spürte einen fremden Körper an sich, verblichen und verdörrt, wie Gräser im Hochsommer. Mit Grauen erkannte er, dass es sein eigener war.

Das Knarzen einer Leiter. Finger, die sich um seine Arme schlossen. Der Körper, der ihm fremd war und doch ihm gehörte, begann zu schweben, dem Licht entgegen. Der Geruch von Schweiß. Vor ihm eine Wand, nein, eine Decke. Feuchte Kälte auf seinen Lippen. Wasser. Auf einmal, aus der Leere seines Innern stieg ein gewaltiges Gefühl, eine alles überlagernde Gier: Wasser. Er trank und trank, verschluckte sich, hustete, trank weiter, doch das Wasser war weg, wo war es, wo war es hin? Da – da war es wieder, er durfte trinken, er hätte jauchzen können vor Glück, so köstlich schmeckte es. Erschöpft schlief er ein.

 

Zu essen fiel ihm schwerer, doch schließlich gelang auch das. Irgendjemand schnitt ihm die Haare, stutzte den Bart. Er lernte, sich an die Welt zu erinnern, aus der er stammte und in die man ihn zurückgebracht hatte. Er erkannte die Kriegerin, die an sein Bett trat – Kohatu, die Hauptfrau Ranuis.

»Kannst du gehen?«, fragte sie.

Vorsichtig richtete er sich auf, mit ihrer Hilfe kam er auf die Beine.

»Die Königin verlangt nach dir.«

Unbeholfen quälte er sich zu einem ersten Schritt; hätte die Hauptfrau ihn nicht gefasst, wäre er gestürzt. Der zweite Schritt glückte besser, zumindest tat sein Bein, was es sollte. Trotzdem fehlte ihm die Kraft, sich aufrecht zu halten, den ganzen Weg über hing er in seinem Hemd, das die Hauptfrau am Kragen gepackt hatte.

Sie erreichten den Palast. Durch dichten Nebel erinnerte Kidogo sich daran, wie er das erste Mal hier gewesen war. Die Hauptfrau führte ihn in eine Schreibstube, nicht unähnlich derjenigen, in der er damals über die Erbauer hatte Auskunft geben müssen. Eine junge Priesterin sprach mit mehreren Satrapanim. Die Priesterin war die einzige, die saß. Als die Hauptfrau mit Kidogo eintrat, schickte die Priesterin die anderen Anwesenden aus dem Raum.

»Ihr seid der Schamane?«

»Ja, Eure priesterlichen Gnaden.«

Die Hauptfrau zog an seinem Kragen. »Erbiete der Königin Ehre.«

»Ihr meint, die Priesterin ...« Er wandte sich der jungen Frau zu: »Ihr seid die Königin?«

Die Angesprochene erhob sich aus ihrem Lehnstuhl. »Ich bin es.«

»Aber Hua ...?«

»Hat die Stadt verlassen.«

Kidogo zögerte, kämpfte darum, seine Gedanken zu ordnen. Die selbsterklärte Königin ließ ihm die Zeit, die er brauchte. Schließlich fragte er: »Wie lange war ich eingesperrt?«

»Etwas mehr als vier Monde.«

»Nur?« Auch wenn sie zehn Jahre gesagt hätte, hätte es ihn nicht überrascht.

»Erzählt mir von meiner Schwester.«

Sprachlos sah Kidogo die andere an. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. »Ihr seid Torokaha. Die kleine Schwester von Aki.«

»Ja.« Sie winkte der Hauptfrau; diese trat an ein zierliches Tischchen, das eine Kristallschale mit Früchten und mehrere Karaffen mit Wein bereithielt. Die Hauptfrau füllte zwei Gläser.

 Während Torokaha ihm das eine reichte, sagte sie: »Erzählt mir alles, was Ihr wisst. Ich bitte Euch. Sprecht ohne Scheu, es handelt sich um keine Prüfung.«

Aus den Tiefen seines Gedächtnisses stieg eine Erinnerung. »Ihr wurdet getrennt erzogen, nicht wahr? Aki meinte, Ihr habt Euch kaum gekannt.«

Torokahas Lippen kräuselten sich zu einem bitteren Lächeln. »Kaum, hat sie gesagt? Niemals trifft es besser.«

»Das tut mir leid.«

»Wie war sie?«

Es war eine einfache Frage. Und trotzdem tat sie Kidogo im Herzen weh. Denn er konnte nicht an die Zeit mit Aki denken, ohne sich zu erinnern, wie es geendet hatte. Er nahm einen Schluck aus seinem Glas. Der Wein schmeckte stark und süß, das Licht der Öllampen flackerte darin. Wie die Fackel, mit der Aki die ausgehungerten Wölfe in die Flucht geschlagen hatte. »Sie war mutig«, sagte er. Unwillkürlich tastete er nach seiner verwundeten Schulter. »Und zäh war sie.« Einige der Früchte, die in der Kristallschale lagen, hatte Kidogo noch nie gesehen. Er erinnerte sich daran, wie Aki von den essbaren Beeren, die sie gefunden hatte, immer eine übriggelassen und verwahrt hatte, als Gedächtnisstütze. »Und klug.«

Torokaha hatte ihr Glas bereits geleert. »War sie liebenswert?«

Nachdem er in die Eisspalte gefallen war, hatte sie ihn gerettet, einen Fremden. Obwohl sie selbst bereits halb ohnmächtig vor Erschöpfung gewesen war. Als Kidogo antworten wollte, versagte ihm die Stimme. Er spürte seine Augen feucht werden. Stumm nickte er.

»Ich habe sie gehasst«, sagte Torokaha.

Die Klarheit ihrer Worte ließ Kidogo zusammenzucken. »Ihr habt sie nicht gekannt.«

»Nein. Dafür hat Mutter schon gesorgt. Mahuika, die kostbare Mahuika musste geschützt werden. Das Ritual sollte ihr so leicht wie möglich gemacht werden.« Sie ließ sich Wein nachschenken. »Ich war nur die Zweitgeborene; das Opfer, das es verlangte, um der Erwählten der Göttin den Thron zu bereiten.«

»Sie hat die Tradition so verabscheut wie Ihr selbst. Deshalb hat sie Euch am Leben gelassen. Deshalb ist sie geflohen.«

»Ich habe gesehen, wie sie gestorben ist.« Ihr fahriger Blick streifte die Hauptfrau. »Mein Leben lang hat mich der Hass gegenüber meiner Schwester aufgezehrt. Nichts sehnlicher habe ich mir gewünscht als ihren Tod, je elender, desto besser.« Ein großer Schluck – auch ihr zweites Glas Wein war geleert. »Und dann, als sie verurteilt wird als Schmäherin der Göttin, als meine eigene Leibwache sie schlachtet vor dem versammelten Volk Ranuis ...« Sie verstummte.
Hilflos betrachtete Kidogo das Glas in seiner Hand, dann stellte er es weg. »Es tut mir leid, was Ihr erdulden musstet ...«

Ein schmerzerfüllter Schrei unterbrach ihn. Torokaha schleuderte ihr Glas gegen eine der holzvertäfelten Wände, dann sank sie auf die Knie. Wimmernd verbarg sie ihr Gesicht in den Händen.

»Aki hat Euch nie etwas Böses gewollt«, murmelte Kidogo. »Im Gegenteil.«

Ein Weinkrampf schüttelte Torokaha.

Kidogo wusste nicht, was er hätte tun sollen, wartete still darauf, dass sie sich beruhigte.

Schließlich nahm sie die Hände von ihrem verweinten Gesicht. »Das ist es doch«, schluchzte sie. »Immer war sie die strahlende, die göttliche Schwester. Und selbst jetzt, entehrt und ermordet, ragt sie unerreichbar über mir auf. Nach all den Jahren muss ich mir eingestehen, dass sie meinen Hass nicht verdient hat. Die letzte Demütigung eines zum Jammer verurteilten Lebens.«

Langsam, zaghaft trat Kidogo an die Kniende heran, legte ihr die Hand auf die Schulter. »Glaub mir«, sagte er, »sie hätte keine Schuld in dir gesehen.«

Sie blickte zu ihm auf, doch statt Erleichterung lag nur kalte Verzweiflung in ihren Augen. »Am Tag des Großen Rituals«, flüsterte sie, »ich hätte sie von der Plattform der Verkündigung gestoßen.«

Als Kidogo Torokaha so einsam und verloren vor sich knien sah, überschwemmte ihn eine Woge des Mitgefühls. »Ja«, sagte er.

Nun mischte sich Verwirrung in ihren Blick. »Du verurteilst mich nicht?«

Kidogo kniete sich zu ihr auf den mit Teppich ausgelegten Boden, sah sie ernst an: »Wer an deiner Stelle hätte anders gehandelt?«

Eine kleine Minute lang regte sie sich nicht, ohne zu blinzeln lagen ihre Augen auf ihm, groß und schwer. Hatte er etwas Falsches gesagt? Sollte er sich erklären? Zurückrudern?

Er öffnete die Lippen, da ging ein Ruck durch sie, und ohne dass er noch etwas hätte tun können, schlang sie ihre Arme um ihn. »Danke«, flüsterte sie, während sie ihn an sich drückte.

 

Den ganzen Nachmittag musste er von seiner Zeit mit Aki erzählen. Torokaha sog alles auf, wollte jedes noch so kleine Detail in größtmöglicher Ausführlichkeit geschildert bekommen. Und wie sehr sich Kidogo anfangs auch vor dem Schmerz der Erinnerungen gefürchtet hatte, so schnell merkte er, wie sich ein Knoten in ihm zu lösen begann, ein Alpdruck, der auf seinem Herzen gelegen hatte, seit sie nach Ranui gekommen waren.

Dass die todbringende Hauptfrau die ganze Zeit über bei ihnen stand, war freilich beunruhigend. »Ich war in der Menge und habe geschrien«, erklärte Torokaha, als sie sein Unbehagen bemerkte. »Hätte Kohatu mit der Hinrichtung gezögert, hätte man mich gefasst. Statt nur Mahuika hätte sie auch noch mich töten müssen. Sie hat mich gerettet.« Tatsächlich schien Torokaha ihrer Hauptfrau den Mord an Aki verziehen zu haben, und so wollte auch er es versuchen.

Mehrmals wurde nach der Königin gefragt, doch Torokaha vertröstete alle ohne Unterschied auf den Abend. Und erst, als es dunkelte, erhob sie sich von ihrem Lehnstuhl und dankte Kidogo für seine Offenheit.

Auch er stand auf, noch immer wacklig, aber doch ohne Kohatus Hilfe. Während er sich verabschiedete, fiel ihm Torokaha ins Wort. »Was hast du jetzt vor?«

»Wenn du mich noch ein paar Tage beherbergen willst, wäre ich dir dankbar. Sobald ich wieder bei Kräften bin, werde ich Ranui verlassen ...«

»Bleib hier.«

Kidogo schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Mandrêb«, sagte er, »mein Platz ist auf der Straße.«

»Bitte.« Torokaha berührte sacht sein Handgelenk. »Du könntest mir helfen, diese Stadt menschenfreundlicher zu machen. Mein Berater sein.«

»Ein schmeichelhaftes Angebot.« Er musste lachen. »Aber was weiß ich schon von den Geschäften einer Königin? Ich bin überzeugt, dass du leicht jemanden findest, der besser geeignet für diese Aufgabe ist.«

Mit seltsamem Blick starrte sie ihn einen Moment lang an. Dann sagte sie: »Komm mit.«

Seine Einwände prallten gegen den Rücken der Königin, sie hatte sich bereits zur Tür gewandt. Als sie den Palast verließ, schlossen augenblicklich sechs Bewaffnete zu ihr auf. Doch es waren keine Palastwachen, sondern halbnackte Hünen mit buschigen Bärten. Styrkur! Was machten die hier? Kidogo wollte schon fragen, besann sich dann aber eines besseren – lieber abwarten, bis er wieder mit Torokaha alleine war. Diese eilte zielgerichtet zum Tempel und wurde erst langsamer, als sie bemerkte, dass Kidogo trotz Kohatus Hilfe zurückfiel.

Mit angemessenem Gruß traten die Tempelwachen zur Seite, und zu Kidogos wachsendem Erstaunen folgten die Styrkur sogar ins Innere der Pyramide. Als er diese zum ersten Mal betreten hatte, waren ihm die Gänge schmal und beklemmend vorgekommen – aber nach den Monden im Kellerloch konnte davon keine Rede mehr sein. Wenn seine Erinnerung ihn nicht trog, gingen sie in Richtung des Allerheiligsten und der Verkündigungsplattform. Was hatte Torokaha bloß mit ihm vor? Selbst wenn das gesamte Volk Ranuis ihn als Berater der Königin wünschen würde, würde ihn das nicht geeigneter für die Aufgabe machen.

Doch das Ziel Torokahas bestand weder im Allerheiligsten noch in der Verkündigungsplattform. Vor einer goldbeschlagenen, verriegelten Tür blieb sie stehen. Kidogo sah, wie ihre Brust sich hob und senkte.

»Ich weiß nicht, was du mir zeigen willst«, sagte er hastig, »aber wenn dich schmerzt, was hinter dieser Tür ist, dann lass sie geschlossen.«

Seine Worte erreichten das Gegenteil, denn Torokaha straffte die Schultern und schob den Riegel zurück. Sie öffnete und bat Kidogo in einen kleinen, dunklen Raum. Auf Torokahas Befehl entzündete Kohatu die Öllampen, die in die Wände eingelassen waren. Nun war ein sechseckiger Grundriss zu erkennen, in dessen Mitte ein Lesepult mit den Heiligen Schriften zu erkennen war, davor ein Gebetsteppich. An der Rückseite fand sich ein herrschaftliches Bett, dessen Pracht von dem Abort an seinem Fußende unterlaufen wurde.

»Eine Zelle?«, fragte Kidogo.

Torokaha antwortete nicht gleich, wirkte abwesend, ging wie schlafwandelnd an den wenigen Gegenständen vorbei. Schließlich blickte sie sich nach der Hauptfrau um, nickte ihr mit zusammengepressten Lippen zu. Die Hauptfrau sah weg.

»Deine Zelle«, kam Kidogo die Erkenntnis. »Hier haben sie dich festgehalten?«

»Mein Leben lang«, flüsterte Torokaha. Auf ihrer Wange glitzerte eine Träne.

»Die ganze Zeit?«

Ein Schweigen, das eine Antwort war.

»Aber du wurdest besucht?«

»Von den Priesterinnen, die mit meiner Erziehung betraut waren.«

»Und Kohatu?«

»Durfte wie die anderen Wachen den Raum nicht betreten. Bis zum Großen Ritual habe ich kein Wort mit ihr gewechselt. Gesehen habe ich sie nur, wenn die Priesterinnen die Tür öffneten.«

»Deine ganze Kindheit ... dein Leben ... hier?«

Wie unbeteiligt wischte sich Torokaha die Träne ab. »Ich will dein Mitleid nicht.« Sie löste sich von den Gegenständen, trat auf ihn zu. »Ich will deinen Rat. Als Berater der Königin.«

»Ich ...« Kidogo seufzte, »ich habe es dir gesagt, ich verstehe mich auf Knochenbrüche, nicht auf Steuern und Gesetze.«

»Du hast die ganze Welt gesehen. Ich hingegen zwanzig Winter lang nur diese sechs Wände – und in den letzten Monden nichts als die schlimmsten Seiten der Menschen.«

»Trotzdem ...«

»Die Welt ist krank, Kidogo, und du bist ein Heiler.« Sie nahm seine Hand. »Bitte.«