Teil 3 – Die Grabung (30. Kapitel)
Wer zum Sterben erzogen worden war, war ansonsten für wenig zu gebrauchen. Torokahas einzige Stärke lag darin, dass sie den Atem der Finsternis bereits gespürt hatte. Mit dem Tod ihrer Schwester war der Teil in ihr gestorben, der geglaubt hatte, dem eigenen Leben eine Bedeutung verleihen zu können. Stumpf wanderte sie durch das Land, ohne das Leid zu empfinden, dem sie begegnete. Sie schlug sich als Tagelöhnerin durch, versuchte sich auf dem Feld und als Köchin, flickte Kleider und brannte Ziegel. Der Hunger war ein ständiger Begleiter, das Wetter ein zäher Widersacher. In der Mittagshitze erntete sie Salat, bis sie taumelte; eines Nachts wurde das Tuch, unter dem sie sich verkrochen hatte, von einem Hagelschauer zerfetzt. Regenfälle durchtränkten sie, bis ihre Finger blau vor Kälte wurden. Ab und zu durfte sie in einer Scheune schlafen, doch das schützte sie nicht vor der Schlechtigkeit der Menschen. Ohne Klage ertrug sie alles. Auch Mitgefühl brachte man ihr entgegen, es nahm es kaum anders auf als Spott und Gewalt. Was man ihr schenkte, nahm sie schweigend entgegen. Sie wurde schwanger und fand eine Kräuterfrau, die für ihre Hilfe den gesamten Betrag verlangte, den Torokaha in zwei Wochen Arbeit bei einem Torfstecher gespart hatte. Der Eingriff gelang, doch brachte er sie an die Schwelle des Todes. Eine Gewürzhändlerin fand sie am Wegesrand und zahlte ihr den Aufenthalt in einer Herberge, bis sie wieder bei Kräften war. Sie begleitete die Händlerin bis nach Lanarok, einer kleinen Stadt am Ostmeer, wo sie ihr half, ihre Gewürze zu verkaufen. Zum ersten Mal, seit sie Ranui verlassen hatte, schlief sie mit vollem Magen ein.
Am nächsten Morgen hatte die Händlerin Pusteln im Gesicht, drei Tage später war sie tot. Bevor sie starb, vermachte sie Torokaha ihren Besitz. Mit dem Handkarren und den Gewürzen zog Torokaha die Küste entlang, bis sie von einer Gruppe Wegelagerer bewusstlos geschlagen wurde. Sogar die Stiefel zogen sie ihr aus. In einem Fischerdorf knüpfte sie Netze. Eines Nachts wurde sie von Qualm und Todesschreien geweckt. Die Styrkur waren mit einem ihrer Langboote gekommen und erschlugen alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Den Rest legten sie in Fesseln und schleppten ihn auf ihr Schiff. In der Dunkelheit des Schiffsbauchs wurden alle Geräusche unerträglich laut: das Ächzen der Mitgefangenen, das Scharren der Ratten, die Wellen, die von außen gegen den Rumpf klatschten. Eine endlose Zeit verging, ohne dass jemand Wasser brachte oder auch nur nach ihnen sah. Wie eine Decke lag der Geruch nach Eiter, Erbrochenem und Schlimmerem über Torokaha.
Als es hell wurde, glaubte sie, ins Licht zu treten. Aber nicht ihr Leben endete, sondern die Bootsfahrt. Wie die anderen Gefangenen schleppte man sie über einen Steg an einen Kiesstrand und warf sie in eines der dort bereitstehenden Fuhrwerke. Am Rande nahm Torokaha wahr, wie manche Gefangene ins Meer gestoßen wurden. Über schlammige, holprige Wege ging es durch eine karge Felslandschaft, nur hier und da fanden sich grüne Flecken, auf denen Schafherden weideten.
Nach einer halben Stunde erreichten sie ein Dorf, in dem die Fuhrwerke anhielten. Die Gefangenen wurden abgeladen und in einen langgezogenen Käfig aus Holzlatten geschleift. Ein einfaches Reetdach schützte vor Sonne und Wetter. Mehrere Tage wurden die Gefangenen mit Wasser, Fisch und ungesalzenem Brot versorgt. Die meisten flehten zu ihren Göttern, ersannen Fluchtpläne oder versuchten erfolglos, die Wachen für sich einzunehmen – grobe, muskelbepackte Gesellen mit wilden Bärten und verfilzten Zöpfen. Torokaha jedoch zog sich in einen Winkel des Käfigs zurück und aß stumm, was man ihr gab.
Als die ersten Gefangenen die Erschöpfung der Reise halbwegs überwunden hatten, kam ein Trupp Bewaffneter ins Dorf. Sie trugen fettige Lederrüstungen, Rundschilde auf dem Rücken und gehörnte Helme an der Seite. Nachdem ein grauhaariger, drahtiger Mann, dessen bisheriges Auftreten ihn als Dorfvorsteher ersichtlich machte, ein Bierfass auf den Platz gerollt hatte, stachen sie es an und gossen den Inhalt in ihre Helme. Im Stehen führten sie die Helme wie Schalen an die Lippen und tranken sie in einem Zug leer. Anschließend trat der Anführer der Neuankömmlinge, ein breitschultriger Kerl mit einer Augenklappe, an den Käfig und zeigte auf die rüstigeren der Gefangenen. Der Grauhaarige rief etwas, zwei der Wachen traten in den Käfig und fesselten die Bezeichneten so aneinander, dass sie zu einer Kette aufgereiht wurden. Torokaha bildete das letzte Glied.
Der Kerl mit der Augenklappe schlug dem Grauhaarigen gegen die Schulter und bellte einen kehligen Befehl. Seine Leute trieben die menschliche Kette aus dem Käfig und setzten sich anschließend vor und hinter sie. Einen halben Tag lang trotteten sie über hügelige Wiesen, an ärmlichen Dörfern vorbei, durch befestigte Hohlwege hindurch.
Sie schienen sich nie weit vom Meer zu entfernen, immer lag Salz in der Luft. Als der Nachmittag bereits zur Neige ging, zeigten sich Rauchschlieren am Horizont. Dass ihre Wachen nicht beunruhigt waren, bezeugte den friedlichen Zweck der Feuer. Wenig später ließen sich die Umrisse einer Wallanlage erkennen. Keine Großstadt nach ranaischen Maßstäben, aber doch weitläufig genug, um mehreren tausend Leuten Heimat zu bieten. Torokaha und ihre Schicksalsgenossen wurden geradewegs durch das offene Tor geführt. Die Siedlung war um eine Anhöhe herum errichtet, auf der eine steinerne Burg zu sehen war. Ansonsten war das Stadtbild von Fachwerk und Reetdächern geprägt; keins der Häuser hatte ein zweites Stockwerk, nur wenige hatten überhaupt eines. Die Menschen waren in Felle und Leder gehüllt und ansonsten in nicht viel. Das kühle Wetter schien ihnen nichts auszumachen.
Bereits nach hundert Schritt gelangte Torokahas Gruppe in einen Innenhof, in dessen Wände Stahlringe eingelassen waren. An diese Ringe wurden sie gekettet, wobei auch die Seilfesseln durch Stahl ersetzt wurden. Eine zahnlose Alte verteilte mit Honig gesüßten Hirsebrei, dann wurden sie sich selbst überlassen. Die Nacht war sternenklar und bitterkalt.
Mit der Morgenröte erschien die Alte wieder, in jeder Hand einen Wassereimer. Unter Nutzung eines rauen, stinkenden Lappens machte sie sich daran, die Gesichter zu waschen. Das Wasser war eisig. Als sie fertig war, kam die Truppe des Kerls mit der Augenklappe, löste die Gefangenen von den Wandringen und kettete sie erneut aneinander. Anschließend wurden sie auf einen Marktplatz geführt, der vom Geruch nach Fisch und Urin beherrscht wurde. Mehrere Stunden lang standen sie herum, ohne dass man sie weiter beachtete. Nur ein paar Kinder bewarfen sie mit Steinen. Torokaha schmerzten die Füße; seit die Wegelagerer ihr die Stiefel geraubt hatten, hatte sie kein gutes Schuhwerk mehr besessen. Als sie sich setzte, ließen die Wachen es geschehen.
Plötzlich kam Bewegung in die Fischhändler und ihre Kundschaft. Aus Richtung der Burg hörte man Pferdegetrappel, und wenig später erschien ein Dutzend Berittener auf dem Marktplatz. Auch sie waren nur in Leder gerüstet, doch die glänzenden Streitäxte und stolzen Blicke verrieten ihre herausragende Stellung. Der vorderste riss am Zaumzeug seines Rosses, ließ es vor dem Einäugigen halten. Auf seinem nackten, muskelbepackten Oberkörper lag eine schwere Goldkette, an der Seite trug er ein Breitschwert. Er schwang sich vom Pferd, ging auf Torokahas Gruppe zu. Dies musste ein Zeichen sein, denn umgehend drängte von allen Seiten weiteres Volk herbei, der Fisch war vergessen.
Vor dem halbnackten Krieger ließ sich der Einäugige auf ein Knie nieder, senkte das Haupt. Der Verehrte nickte ihm zu und trat noch näher an die Gefangenen heran. Einzeln musternd schritt er sie ab. Vor Torokaha blieb er stehen. Er griff ihr mit Daumen und Zeigefinger in die Wangen, drückte ihre Kiefer auseinander, sah ihr in den Mund. Mit zusammengezogenen Augenbrauen packte er ihre Hand, besah sich ihre Finger, befühlte ihr Haar. Über die Schulter rief er dem Einäugigen etwas zu, der schüttelte den Kopf. Ein kurzer Wortwechsel entspann sich.
Dann fragte der Einäugige in gebrochenem Ranuk: »König Mattur sagt, du bist keine Fischerin. Wer bist du?«
Ein König? Der Mann herrschte über fünf Hütten und acht Fische und nannte sich einen König? Zum ersten Mal seit langer Zeit musste Torokaha lächeln.
»Sprich.«
»Ich bin wie dein Herr«, sagte sie. »Eine Königin ohne Volk.«
Der Einäugige übersetzte. Torokaha machte sich darauf gefasst, Prügel zu beziehen; es war nie klug, die Macht im Angesicht der Öffentlichkeit zu verspotten. Doch der Möchtegernkönig befahl nicht etwa ihre Züchtigung – er fing dröhnend an zu lachen.
Dann erhob er die Stimme, halb an Torokaha, halb an die umstehende Menge gerichtet. Der Einäugige gab den Inhalt wieder: »König Mattur dankt dir für deinen Scherz. Du hast ihn zum Lachen gebracht. Dennoch will er wissen, wer du bist.«
»Ich bin Königin Torokaha.«
Diesmal verfinsterte sich die Miene König Matturs. Länger sprach er auf den Einäugigen ein, dieser übersetzte: »Ein Scherz wird schal, wenn man ihn zweimal macht. Es gibt keinen König auf Styrkur Dok neben Mattur. Und im Weiten Land gibt es keine Königin neben der Herrscherin Ranuis. Der König ist bereit, deine Frechheit zu verzeihen, er schätzt deinen Mut. Aber fordere dein Schicksal nicht heraus. Er will, dass du ihm sagst, wer du bist.«
Schicksal? Nicht mehr als ein Wort, das die Menschen ersonnen hatten, um sich vorzugaukeln, dass der Zufall eine Bedeutung hatte. Dass sie selbst eine Bedeutung hatten. Es war erbärmlich. Und doch, irgendetwas an den Worten klang nach, legte sich auf ihren Geist wie ein feuchtes Tuch auf eine fiebrige Stirn, gab ihr einen Halt, den sie verloren geglaubt hatte. Eine Hoffnung, die sie tief in sich vergraben hatte, als den Quell ihres Leids – die Hoffnung, dass es im Leben mehr gab als das Warten auf ein Ende. War das Leben doch mehr als eine Aneinanderreihung von Zufällen? Viele Wochen lang war sie umhergeirrt, ziellos und zufällig – und nun war sie hier, am einzigen Flecken der erreichbaren Welt, der nicht von Ranui beherrscht wurde. War es doch kein Zufall gewesen? Gab es irgendetwas, tief in ihrem erloschenen Inneren, das noch glomm? Ein Geist, der sie geführt, der sie hierhergetrieben hatte, der mehr in ihr sah als ein gebrochenes, todgeweihtes Wesen?
»Ich werde ihm sagen, wer ich bin.« Die Fesseln ließen genügend Spiel, dass Torokaha nah an den König herantreten konnte. Sie tat es, hob den Blick, sah ihn gerade an. »Ich bin Torokaha, Tochter der Haika, Kind aus dem Hause Atua-Kores, Erste ihres Hauses, Erwählte der Göttin, rechtmäßige Hüterin des Goldenen Throns von Ranui, Königin von Tiratanga.« Ohne ihn aus den Augen zu lassen, wartete sie, während der Einäugige übersetzte. Als er fertig war, wollte der König etwas erwidern. Rasch legte Torokaha ihm die Finger auf die Lippen. »Ich bin die rechtmäßige Königin Tiratangas, ich schwöre es Euch bei der Goldenen Göttin und den Geistern der Finsternis ... und ich habe Euch ein Angebot zu machen.«
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Wer zum Sterben erzogen worden war, war ansonsten für wenig zu gebrauchen. Torokahas einzige Stärke lag darin, dass sie den Atem der Finsternis bereits gespürt hatte. Mit dem Tod ihrer Schwester war der Teil in ihr gestorben, der geglaubt hatte, dem eigenen Leben eine Bedeutung verleihen zu können. Stumpf wanderte sie durch das Land, ohne das Leid zu empfinden, dem sie begegnete. Sie schlug sich als Tagelöhnerin durch, versuchte sich auf dem Feld und als Köchin, flickte Kleider und brannte Ziegel. Der Hunger war ein ständiger Begleiter, das Wetter ein zäher Widersacher. In der Mittagshitze erntete sie Salat, bis sie taumelte; eines Nachts wurde das Tuch, unter dem sie sich verkrochen hatte, von einem Hagelschauer zerfetzt. Regenfälle durchtränkten sie, bis ihre Finger blau vor Kälte wurden. Ab und zu durfte sie in einer Scheune schlafen, doch das schützte sie nicht vor der Schlechtigkeit der Menschen. Ohne Klage ertrug sie alles. Auch Mitgefühl brachte man ihr entgegen, es nahm es kaum anders auf als Spott und Gewalt. Was man ihr schenkte, nahm sie schweigend entgegen. Sie wurde schwanger und fand eine Kräuterfrau, die für ihre Hilfe den gesamten Betrag verlangte, den Torokaha in zwei Wochen Arbeit bei einem Torfstecher gespart hatte. Der Eingriff gelang, doch brachte er sie an die Schwelle des Todes. Eine Gewürzhändlerin fand sie am Wegesrand und zahlte ihr den Aufenthalt in einer Herberge, bis sie wieder bei Kräften war. Sie begleitete die Händlerin bis nach Lanarok, einer kleinen Stadt am Ostmeer, wo sie ihr half, ihre Gewürze zu verkaufen. Zum ersten Mal, seit sie Ranui verlassen hatte, schlief sie mit vollem Magen ein.
Am nächsten Morgen hatte die Händlerin Pusteln im Gesicht, drei Tage später war sie tot. Bevor sie starb, vermachte sie Torokaha ihren Besitz. Mit dem Handkarren und den Gewürzen zog Torokaha die Küste entlang, bis sie von einer Gruppe Wegelagerer bewusstlos geschlagen wurde. Sogar die Stiefel zogen sie ihr aus. In einem Fischerdorf knüpfte sie Netze. Eines Nachts wurde sie von Qualm und Todesschreien geweckt. Die Styrkur waren mit einem ihrer Langboote gekommen und erschlugen alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Den Rest legten sie in Fesseln und schleppten ihn auf ihr Schiff. In der Dunkelheit des Schiffsbauchs wurden alle Geräusche unerträglich laut: das Ächzen der Mitgefangenen, das Scharren der Ratten, die Wellen, die von außen gegen den Rumpf klatschten. Eine endlose Zeit verging, ohne dass jemand Wasser brachte oder auch nur nach ihnen sah. Wie eine Decke lag der Geruch nach Eiter, Erbrochenem und Schlimmerem über Torokaha.
Als es hell wurde, glaubte sie, ins Licht zu treten. Aber nicht ihr Leben endete, sondern die Bootsfahrt. Wie die anderen Gefangenen schleppte man sie über einen Steg an einen Kiesstrand und warf sie in eines der dort bereitstehenden Fuhrwerke. Am Rande nahm Torokaha wahr, wie manche Gefangene ins Meer gestoßen wurden. Über schlammige, holprige Wege ging es durch eine karge Felslandschaft, nur hier und da fanden sich grüne Flecken, auf denen Schafherden weideten.
Nach einer halben Stunde erreichten sie ein Dorf, in dem die Fuhrwerke anhielten. Die Gefangenen wurden abgeladen und in einen langgezogenen Käfig aus Holzlatten geschleift. Ein einfaches Reetdach schützte vor Sonne und Wetter. Mehrere Tage wurden die Gefangenen mit Wasser, Fisch und ungesalzenem Brot versorgt. Die meisten flehten zu ihren Göttern, ersannen Fluchtpläne oder versuchten erfolglos, die Wachen für sich einzunehmen – grobe, muskelbepackte Gesellen mit wilden Bärten und verfilzten Zöpfen. Torokaha jedoch zog sich in einen Winkel des Käfigs zurück und aß stumm, was man ihr gab.
Als die ersten Gefangenen die Erschöpfung der Reise halbwegs überwunden hatten, kam ein Trupp Bewaffneter ins Dorf. Sie trugen fettige Lederrüstungen, Rundschilde auf dem Rücken und gehörnte Helme an der Seite. Nachdem ein grauhaariger, drahtiger Mann, dessen bisheriges Auftreten ihn als Dorfvorsteher ersichtlich machte, ein Bierfass auf den Platz gerollt hatte, stachen sie es an und gossen den Inhalt in ihre Helme. Im Stehen führten sie die Helme wie Schalen an die Lippen und tranken sie in einem Zug leer. Anschließend trat der Anführer der Neuankömmlinge, ein breitschultriger Kerl mit einer Augenklappe, an den Käfig und zeigte auf die rüstigeren der Gefangenen. Der Grauhaarige rief etwas, zwei der Wachen traten in den Käfig und fesselten die Bezeichneten so aneinander, dass sie zu einer Kette aufgereiht wurden. Torokaha bildete das letzte Glied.
Der Kerl mit der Augenklappe schlug dem Grauhaarigen gegen die Schulter und bellte einen kehligen Befehl. Seine Leute trieben die menschliche Kette aus dem Käfig und setzten sich anschließend vor und hinter sie. Einen halben Tag lang trotteten sie über hügelige Wiesen, an ärmlichen Dörfern vorbei, durch befestigte Hohlwege hindurch.
Sie schienen sich nie weit vom Meer zu entfernen, immer lag Salz in der Luft. Als der Nachmittag bereits zur Neige ging, zeigten sich Rauchschlieren am Horizont. Dass ihre Wachen nicht beunruhigt waren, bezeugte den friedlichen Zweck der Feuer. Wenig später ließen sich die Umrisse einer Wallanlage erkennen. Keine Großstadt nach ranaischen Maßstäben, aber doch weitläufig genug, um mehreren tausend Leuten Heimat zu bieten. Torokaha und ihre Schicksalsgenossen wurden geradewegs durch das offene Tor geführt. Die Siedlung war um eine Anhöhe herum errichtet, auf der eine steinerne Burg zu sehen war. Ansonsten war das Stadtbild von Fachwerk und Reetdächern geprägt; keins der Häuser hatte ein zweites Stockwerk, nur wenige hatten überhaupt eines. Die Menschen waren in Felle und Leder gehüllt und ansonsten in nicht viel. Das kühle Wetter schien ihnen nichts auszumachen.
Bereits nach hundert Schritt gelangte Torokahas Gruppe in einen Innenhof, in dessen Wände Stahlringe eingelassen waren. An diese Ringe wurden sie gekettet, wobei auch die Seilfesseln durch Stahl ersetzt wurden. Eine zahnlose Alte verteilte mit Honig gesüßten Hirsebrei, dann wurden sie sich selbst überlassen. Die Nacht war sternenklar und bitterkalt.
Mit der Morgenröte erschien die Alte wieder, in jeder Hand einen Wassereimer. Unter Nutzung eines rauen, stinkenden Lappens machte sie sich daran, die Gesichter zu waschen. Das Wasser war eisig. Als sie fertig war, kam die Truppe des Kerls mit der Augenklappe, löste die Gefangenen von den Wandringen und kettete sie erneut aneinander. Anschließend wurden sie auf einen Marktplatz geführt, der vom Geruch nach Fisch und Urin beherrscht wurde. Mehrere Stunden lang standen sie herum, ohne dass man sie weiter beachtete. Nur ein paar Kinder bewarfen sie mit Steinen. Torokaha schmerzten die Füße; seit die Wegelagerer ihr die Stiefel geraubt hatten, hatte sie kein gutes Schuhwerk mehr besessen. Als sie sich setzte, ließen die Wachen es geschehen.
Plötzlich kam Bewegung in die Fischhändler und ihre Kundschaft. Aus Richtung der Burg hörte man Pferdegetrappel, und wenig später erschien ein Dutzend Berittener auf dem Marktplatz. Auch sie waren nur in Leder gerüstet, doch die glänzenden Streitäxte und stolzen Blicke verrieten ihre herausragende Stellung. Der vorderste riss am Zaumzeug seines Rosses, ließ es vor dem Einäugigen halten. Auf seinem nackten, muskelbepackten Oberkörper lag eine schwere Goldkette, an der Seite trug er ein Breitschwert. Er schwang sich vom Pferd, ging auf Torokahas Gruppe zu. Dies musste ein Zeichen sein, denn umgehend drängte von allen Seiten weiteres Volk herbei, der Fisch war vergessen.
Vor dem halbnackten Krieger ließ sich der Einäugige auf ein Knie nieder, senkte das Haupt. Der Verehrte nickte ihm zu und trat noch näher an die Gefangenen heran. Einzeln musternd schritt er sie ab. Vor Torokaha blieb er stehen. Er griff ihr mit Daumen und Zeigefinger in die Wangen, drückte ihre Kiefer auseinander, sah ihr in den Mund. Mit zusammengezogenen Augenbrauen packte er ihre Hand, besah sich ihre Finger, befühlte ihr Haar. Über die Schulter rief er dem Einäugigen etwas zu, der schüttelte den Kopf. Ein kurzer Wortwechsel entspann sich.
Dann fragte der Einäugige in gebrochenem Ranuk: »König Mattur sagt, du bist keine Fischerin. Wer bist du?«
Ein König? Der Mann herrschte über fünf Hütten und acht Fische und nannte sich einen König? Zum ersten Mal seit langer Zeit musste Torokaha lächeln.
»Sprich.«
»Ich bin wie dein Herr«, sagte sie. »Eine Königin ohne Volk.«
Der Einäugige übersetzte. Torokaha machte sich darauf gefasst, Prügel zu beziehen; es war nie klug, die Macht im Angesicht der Öffentlichkeit zu verspotten. Doch der Möchtegernkönig befahl nicht etwa ihre Züchtigung – er fing dröhnend an zu lachen.
Dann erhob er die Stimme, halb an Torokaha, halb an die umstehende Menge gerichtet. Der Einäugige gab den Inhalt wieder: »König Mattur dankt dir für deinen Scherz. Du hast ihn zum Lachen gebracht. Dennoch will er wissen, wer du bist.«
»Ich bin Königin Torokaha.«
Diesmal verfinsterte sich die Miene König Matturs. Länger sprach er auf den Einäugigen ein, dieser übersetzte: »Ein Scherz wird schal, wenn man ihn zweimal macht. Es gibt keinen König auf Styrkur Dok neben Mattur. Und im Weiten Land gibt es keine Königin neben der Herrscherin Ranuis. Der König ist bereit, deine Frechheit zu verzeihen, er schätzt deinen Mut. Aber fordere dein Schicksal nicht heraus. Er will, dass du ihm sagst, wer du bist.«
Schicksal? Nicht mehr als ein Wort, das die Menschen ersonnen hatten, um sich vorzugaukeln, dass der Zufall eine Bedeutung hatte. Dass sie selbst eine Bedeutung hatten. Es war erbärmlich. Und doch, irgendetwas an den Worten klang nach, legte sich auf ihren Geist wie ein feuchtes Tuch auf eine fiebrige Stirn, gab ihr einen Halt, den sie verloren geglaubt hatte. Eine Hoffnung, die sie tief in sich vergraben hatte, als den Quell ihres Leids – die Hoffnung, dass es im Leben mehr gab als das Warten auf ein Ende. War das Leben doch mehr als eine Aneinanderreihung von Zufällen? Viele Wochen lang war sie umhergeirrt, ziellos und zufällig – und nun war sie hier, am einzigen Flecken der erreichbaren Welt, der nicht von Ranui beherrscht wurde. War es doch kein Zufall gewesen? Gab es irgendetwas, tief in ihrem erloschenen Inneren, das noch glomm? Ein Geist, der sie geführt, der sie hierhergetrieben hatte, der mehr in ihr sah als ein gebrochenes, todgeweihtes Wesen?
»Ich werde ihm sagen, wer ich bin.« Die Fesseln ließen genügend Spiel, dass Torokaha nah an den König herantreten konnte. Sie tat es, hob den Blick, sah ihn gerade an. »Ich bin Torokaha, Tochter der Haika, Kind aus dem Hause Atua-Kores, Erste ihres Hauses, Erwählte der Göttin, rechtmäßige Hüterin des Goldenen Throns von Ranui, Königin von Tiratanga.« Ohne ihn aus den Augen zu lassen, wartete sie, während der Einäugige übersetzte. Als er fertig war, wollte der König etwas erwidern. Rasch legte Torokaha ihm die Finger auf die Lippen. »Ich bin die rechtmäßige Königin Tiratangas, ich schwöre es Euch bei der Goldenen Göttin und den Geistern der Finsternis ... und ich habe Euch ein Angebot zu machen.«